"Wir werden unser Wesen nicht verändern"
Der pure Wahnsinn von Weidenhausen: Der Adler fliegt in die Hessenliga
Jubel beim SV Adler Weidenhausen
Fotos: Hans-Hubertus Braune
31.05.2022 / MEISSNER -
Am Fuße des Hohen Meißner schreibt normalerweise Frau Holle ihr Märchen. Und so manches Bett muss erstmal ordentlich ausgeschüttelt werden. Stimmt das wirklich alles, oder ist es doch lediglich ein Traum? Der SV Adler Weidenhausen ist Meister der Fußball-Verbandsliga Nord und steigt in die Hessenliga auf.
Die Clubs aus der höchsten hessischen Spielklasse werden in der nächsten Saison eine neue Adresse in ihre Routenplaner eingeben: Das Chattenloh in Weidenhausen. Das Fußballmärchen von Weidenhausen hat am Sonntag eine weitere Episode geschrieben - und was für eine.
Mit Herzblut und Leidenschaft
Mit dem 0:0 im Spitzenspiel gegen den CSC 03 Kassel haben sich die Jungs von Trainer Ronald Leonhardt den Meisterpott gesichert. Mit Herzblut, mit Leidenschaft und mit jeder Menge Begeisterung beeindruckten sie auch in diesem Spiel. Längst sind sie in der Fußballer-Szene in der Region ein Begriff. Weidenhausen ist in, Weidenhausen steht für Stimmung.
Doch was genau macht diese Faszination aus? Sonntagnachmittag, kurz nach halb vier Uhr. Das ganze Dorf scheint auf den Beinen - sozusagen eine Prozession zum Sportplatz. Knapp 800 Menschen leben in dem Ortsteil der Kommune Meißner nahe der Kreisstadt Eschwege. Es ist idyllisch hier, das Dorf macht einen sympathischen Eindruck. Salz und Wein brachten im 18. Jahrhundert den Aufschwung. Dazu der Fuhrbetrieb und eine Leinweberei Anfang des 19. Jahrhunderts. Im Spätmittelalter zeugt das Chattenloh von der Bedeutung des Ortes. Die ehemalige Gerichtsstätte des Amtes Bilstein liegt neben dem Sportplatz, deshalb heißt der Sportplatz auch "Chattenloh".
Der Sportplatz Chattenloh ist rappelvoll
Dorthin pilgern am Sonntag geschätzte und unglaubliche 1.700 Menschen. Selbst das Fernsehen ist angerückt und bringt am nächsten Tag einen schönen Beitrag in der "hessenschau". Ein Fußballfest, wie es lange nicht gab. Zwei Frauen sitzen auf einer Bank an der Hauptstraße und schauen sich das Spektakel etwas ungläubig an. Am wunderschönen Rastplatz am Radweg halten sie ein Schwätzchen. "Hier kannste ruhig parken", rufen sie mir freundlich zu. "Der an der Ecke drüben steht aber blöd da". Hohe Bäume weisen den Weg zum Eingang, ein paar Rentner machen den Eintritt, am schmucken Vereinsheim steigt der Rauch von den beiden Holzkohlegrills auf. Am Bierpils ist die Stimmung erwartungsfroh, in dreier und vierer Reihen suchen sich die Fußballfans ein Plätzchen an der Barriere. Es herrscht die besonders schöne Dorfplatz-Atmosphäre mit dem nostalgischen Sportlerheim, Bäumen und über allem wehrt die grüne Vereinsfahne mit dem Adler.
Flieg junger Adler: Die Fans singen und singen und singen
Eng ist es am Platz, später in der zweiten Halbzeit haben die Jungs der Gastgeber kaum Platz, sich für ihren Einsatz warmzulaufen. Es ist eher ein "Hindernislauf" gegen die eigene Anspannung. Ihr Blick geht sowieso unentwegt Richtung Spielfeld. Die Partie ist umkämpft, die Gäste scheinen ein bisschen spielfreudiger. Doch Weidenhausen ist da. Ein Beispiel: Kapitän Sören Gonnermann verletzt sich in der 15. Spielminute und beißt sich trotz Schmerzen im Oberschenkel durch. Hat was von Hinti oder Sebastian Rode - und ist so wichtig für Weidenhausen. Und die Fans sind vom Anpfiff an zu 110 Prozent da. Der Fanclub singt von der ersten Minute an mit. Irgendwann wollen sie mit ihren Jungs nach Mailand. Flieg junger Adler stimmen sie an, haken sich unter, singen und singen und singen. Aber erstmal gehts in naher Zukunft nach Griesheim und Eddersheim. Auch schön, weil Hessenliga.
Die Nachwuchskicker genießen am Spielfeldrand ihre Currywurst-Pommes und sie fiebern mit den Großen mit. Wann pfeift der Schiedsrichter endlich ab? Joshua Herbert (Schwarzbach) ist große Spiele gewohnt, entsprechend souverän leitet er auch diese Partie. In den 90 Minuten habe ich keine einzige Diskussion über einen Schiedsrichterpfiff vernommen. Dann gibt es kein Halten mehr. Die Platzordner knien am Boden, können es nicht fassen, umarmen sich, ein paar Freudentränen fließen. Fans und Spieler jubeln, Ekstase pur. Das Chattenloh ist völlig außer Rand und Band. Der SV Adler Weidenhausen ist in die Hessenliga aufgestiegen. Das geht in die Geschichtsbücher ein. Der Werra-Meißner-Kreis taucht in der höchsten Spielklasse in Hessen auf.
Vereinspräsident und Bürgermeister: "Der absolute Wahnsinn"
"Das ist der Wahnsinn, damit haben wir nie gerechnet. Wir hatten eine andere Saisonplanung", sagt der Vereinsvorsitzende Ralf Kruse. So fünfter oder sechster wollten sie werden. Ich erreiche ihn am Montagnachmittag. Im Hintergrund ist es ein wenig lauter. "Wir sind nach Eschwege gezogen und sind jetzt im Hemingway", sagt der Präsident. Er ist mitten drin dabei. Weidenhausen ist längst "trocken" getrunken. Dafür hat er auch der enorme Ansturm an Zuschauern gesorgt. Viele, viele ehrenamtliche Helfer haben den Verein unterstützt, ob in der Würstchenbude, am Eintritt, an der Kuchentheke oder im Bierpils. Das ist Fußball pur, das ist genau das, was den Sport auszeichnet.
Das soll sich auch nicht ändern. "Wir werden uns vom Wesen nicht verändern", sagt der 50-jährige Vorsitzende. Sie wollen "alles mitnehmen". Die Planungen seien erst angelaufen. Das sieht auch Bürgermeister Friedhelm Junghans so. Er war am Sonntag selbst am Sportplatz und ist begeistert: "Ein absoluter Wahnsinn. Daran hat keiner geglaubt", sagt Junghans im OSTHESSEN|NEWS-Gespräch. Der Adler sei ein Werbeträger für die Gemeinde. Kontinuität, Kameradschaft und das Gefüge zeichne den Verein aus, sagt Junghans.
"Adler sieg, Adler flieg", singen die Fans. Der junge Adler fliegt künftig hinaus in die Hessenliga. Und wird dort übrigens seinen Artgenossen vom Main treffen. Die Eintracht aus Frankfurt spielt künftig mit seiner Amateurmannschaft ebenfalls in der Hessenliga. Dann gastiert sogar Fußballgott Alex Meier am Chattenloh. Was ein Wahnsinn, was ein Märchen. Das konnten sich selbst die Brüder Grimm nicht ausdenken. (Hans-Hubertus Braune) +++