Bilderserie von Martin Engel
Altbundespräsident Gauck: Toleranz ist eine zivilisatorische Leistung
Fotos: Martin Engel
08.04.2022 / FULDA -
Es war ein Abend, der einige Überraschungen bereithielt. Bundespräsident a.D. Joachim Gauck stellte nämlich, entgegen der Ankündigung, keineswegs sein Buch "Toleranz – einfach schwer" vor. Stattdessen näherte er sich erzählend und humorvoll, ja fast feuilletonistisch seinem anspruchsvollen Thema, davon hielten ihn auch die draußen lärmenden Demonstranten nicht ab. Und dass es das frühere Westpaket nun modernisiert als Fuldaer Rucksack gibt, war für ihn sicher ein netter Ausklang des Abends.
Ein Abend zugunsten der Stiftung daHeim im Leben
Ehrengast wie Publikum wurden zunächst von Donata Freifrau Schenk zu Schweinsberg, der Vorsitzenden der 1993 gegründeten Stiftung "daHeim im Leben" begüßt, die sichtlich stolz darauf war, Gauck nach Fulda geholt zu haben. Dafür gibt es gute inhaltliche Gründe: Gaucks Interesse galt während seiner Amtszeit ganz besonders auch Senioren, was gut zur Philosophie der Stiftung passt (mehr über die Stiftung hier: www.daheim-im-leben.de).Dann folgte ein moderiertes Gespräch zwischen Gauck und Tanit Koch. Die Journalistin war bei BILD, n-tv und RTL und leitete 2021 die Kommunikation der CDU im Bundestagswahlkampf. Sagen wir mal so – es war eine Art Warmlaufen für Gauck, denn die eher generischen Fragen zur aktuellen politischen Lage mit Schwerpunkt Ukraine hätte es nicht gebraucht. Dieser Moderationsblock stand auch deshalb ziemlich erratisch da, weil Frau Koch an keiner Stelle den Bogen zum Thema des Abends schlug. Und dabei hätte es doch mehr als genug Vorlagen genau dafür gegeben.
"Warum spricht der so gut deutsch?"
So aber ging es zunächst um Putin, den Angriffskrieg gegen die Ukraine und die deutsche Friedenssehnsucht. Gauck machte es kurz und schmerzlos: Als in der DDR sozialisierter Mensch habe er schon immer einen klaren Blick auf Putin gehabt, das läge an seinem Grundmisstrauen gegen den Homo sovieticus. Er habe sich 2001 bei Putins Rede im Bundestag über die Naivität der Abgeordneten gewundert, die Putins Deutsch bestaunten. "Sie hätten lieber fragen sollen, warum spricht der so gut Deutsch!", brach es aus ihm heraus. Denn Putin war beim KGB, ihm habe nie eingeleuchtet, warum ausgerechnet ein KGB-Mann Russland in die Zukunft führen solle. "Wir entfeinden uns ist eine edle Haltung, es gibt aber leider Menschen, die nicht edel, sondern destruktiv sind." Nach inzwischen 42 Tagen Krieg fragt man sich heute allerdings umso mehr, wieso Gauck seine Sicht auf Putin nicht nachdrücklicher in der deutschen Politik verankert hat. Seine Antwort blieb an diesem Punkt ausweichend. Gibt es für Toleranz eigentlich gute Zeiten?
Eigentlich hätte man es wissen können – wer ans Rednerpult tritt, liest nicht vor, sondern spricht. Gauck nahm das Publikum mit auf eine Gedankenreise durch die Toleranz. Er habe nach Ende seiner Amtszeit über dieses Thema schreiben wollen, "weil mich genervt hat, wieviel verbissene Rechthaberei sich in Deutschland breitgemacht hat". So einfach, wie er sich das gedacht habe, sei die Sache aber leider nicht, er habe zunächst für sich klären müssen, was er unter Toleranz verstehe: "Toleranz ist eine Zumutung, eine zivilisatorische Leistung, eine beglückende Tugend und ein Gebot der politischen Vernunft."1990 habe er zum ersten Mal in seinem Leben gewählt, und danach geweint: "Ich musste 50 Jahre alt werden, um zum ersten Mal wählen zu können. Ich habe seitdem nie wieder eine Wahl verpasst – und Sie werden hoffentlich auch nie eine verpassen, sonst erscheine ich Ihnen als Geist!" Als Parlamentarier musste Gauck eine weitere Prüfung in Toleranz ablegen, denn gewählt wurden auch ehemalige SED-Kader, auch wenn deren Partei nun anders hieß. Und er habe sich gefragt: Kann ich diese Demokratieverächter tolerieren, kann ich sie respektieren? Der Kopf habe gesagt ja, das musst Du, der Bauch hingegen habe gegrummelt.
Manchmal sei Toleranz eben ein Ertragen und kein Akzeptieren. Mit weiteren Beispielen führt Gauck das aus – vom türkischen Gemüsehändler mit dem frischesten Gemüse und den abituriert-studierten Töchtern über dessen Cousin, der seine Tochter für ein Wesen mit minderen Rechten hält bis zu den Katholiken, die ihm und seiner Großmutter – linksprotestantisch sozialisiert – damals als "falsch" erschienen. Mit den Katholiken habe er später leicht zu echter Toleranz gefunden, den Cousin des Gemüsehändlers hingegen könne er nur ertragen. Gauck spricht frei, hat die Stimmung im Saal bestens im Blick und erfreut das Publikum durch sein belehrungsfreies, humorvolles Erzählen mit mancher gut gesetzten Pointen.
Kämpferisch tolerant sein
Sein Beispiel ist die AfD, eine Partei, die ihm in ihrem völkischen Nationalismus zuwider sei. "Ich will sie nicht anerkennen, sie sind genauso verzichtbar wie die Kommunisten." Ihm geht es darum, den Begriff ‚konservativ‘ eben nicht den Rechten zu überlassen oder ihn automatisch mit nationalistisch gleichzusetzen. Wer sich gegen die Mehrheitsmeinung stelle, verdiene dennoch Toleranz. "Hätte ich mein Buch in den 1970ern geschrieben, hätte ich für eine erweiterte Toleranz gegen links geworben", sagt Gauck, denn damals hätten alle Studenten und Journalisten, die sich für den Aufbruch entschieden hatten, in der Mehrheitsgesellschaft als Kommunisten gegolten.
Ich gebe zu, der Vergleich ist einerseits hilfreich, um Gaucks Ansatz zu verstehen, gleichzeitig widerstrebt es mir auch zutiefst, die 68-er mit der AfD in einen Topf zu werfen. Die einen wollten etwas für die demokratische Gesellschaft erreichen und das gelang ihnen ja auch, die anderen verachten die demokratische Gesellschaft und treten sie mit Füßen. Das war eine Unschärfe in Gaucks Argumentation. Lässt man aber die AfD weg und spricht nur über sehr konservative Milieus, gewinnt der Gedanke wieder an Profil. Denn das ist ja klar, Gauck geht es nicht um das Umarmen des rechten Rands, er will verdeutlichen, dass besonderes konservative Menschen sich oft nicht mehr repräsentiert sehen, weil ihnen auch die CDU zu nicht-konservativ geworden ist. Gauck weist daraufhin, dass es in allen Gesellschaften einen stabilen Teil von ca. 33 bis 44% gäbe, der eine autoritäre Grunddisposition habe. Ihnen gegenüber stehe die kleinere Gruppe in der Gesellschaft, die für Wandel, Aufbruch und Veränderung einträte. Und während letztere sich gut repräsentiert fühle, gelte das eben nicht für den sehr konservativen Bereich der Gesellschaft. Ich füge hinzu – 1968 ff. war das mit der Repräsentanz genau umgekehrt.
Was passiere, wenn es zwischen beiden Gruppen keinen Austausch, keine Kommunikation mehr gibt, könne man in den USA oder auch in Polen studieren: "Dann geht ein Riss durch die Gesellschaft, dann verhärten sich die Fronten. Denn gerade Zeiten der Verunsicherung triggern das Abdriften in linke und rechte Extreme." Aus einem Menschen mit konservativer Grundprägung werde aber nicht notwendigerweise ein Nationalist oder Faschist. Für Gauck stellt sich die Aufgabe einfach dar: Miteinander reden, die Angst nehmen, klar machen, "ihr seid Citoyens, nicht Untertanen." Es sei schließlich ein menschliches Urbedürfnis, dass möglichst alles beim Vertrauten bleibe.
Die Intoleranz des Guten
In einer katholischen Bischofsstadt, deren Menschen er auch deshalb als überwiegend konservativ einschätzt, kann dieser Schlenker natürlich nicht fehlen: Es gibt auch eine Intoleranz der Guten, man kann auch in guter Absicht intolerant sein. Die Beispiele, die Gauck nennt, sind die Umdeutung von Begriffen und Themen, die Dekonstruktion der Wirklichkeit und alles, was er "betreutes Sprechen" nennt. Das gefiel einigen im Publikum wahnsinnig gut, und mancher dachte wohl, nun könne er quasi mit Gauck’schem Segen gegen Gendern, Diversität und für das Beibehalten bestimmter Begriffe auftreten. Weit gefehlt. Ein sehr nachdenklicher Gauck vermittelte eben auch, dass er sich im Klaren darüber sei, dass diese spezielle Toleranz-Frage womöglich eine des Alters sei, das sähe er an seiner jüngsten Tochter.Für mich war das einer der erhellendsten Momente dieses Abends – hier der klarsichtige, von Lebenserfahrung geprägte Alt-Bundespräsident, dort ein Publikum, das in Sachen Toleranz erschreckend schnell beim Verteufeln gewesen wäre, hätte Gauck diesen Weg nicht argumentativ verstellt. Das ist vielleicht die zentrale Botschaft, die er allen mit auf den Weg gibt: "Solange wir Austausch und Streit pflegen, ist alles gut."
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