Vortrag am Sonntag im Bonifatiushaus

"Nicht nur Beitrag, sondern Anteil": 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland

Mit dem Thema "1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" befasst sich am Sonntag ein Festvortrag im Bonifatiushaus.
Symbolbild: Pixabay

18.11.2021 / FULDA - Im Rahmen der Veranstaltungsreihe zum Festjahr "1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland", die das Bistum Fulda, seine Akademie und die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit Fulda gemeinsam durchführen, findet am Sonntag, 21. November 2021, um 11.00 Uhr im Bonifatiushaus in Fulda-Neuenberg ein Festvortrag statt. Referent ist Johannes Heil, Professor für Religion, Geschichte und Kultur des europäischen Judentums der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg.

Sein Plädoyer zur Rolle jüdischen Lebens in Deutschland gestern und heute ist: "Nicht nur Beitrag, sondern Anteil!" In einem Vorab-Interview mit Dr. Marco Bonacker, Abteilungsleiter Bildung und Kultur im Bischöflichen Generalvikariat, und Burkhard Kohn, Bildungsreferent in der Katholischen Akademie des Bistums, äußert sich Professor Heil zum Gesamtkontext "1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland" und zur aktuellen gesellschaftlichen Situation von Jüdinnen und Juden in Deutschland.

Frage: Ihr Plädoyer zur Bedeutung jüdischen Lebens in Deutschland seit 1.700 Jahren ist: "Nicht ‚Beitrag‘, sondern ‚Anteil‘!" Was wollen Sie mit dieser Unterscheidung zum Ausdruck bringen?



Professor Johannes Heil: Das Judentum ist kein Anhängsel der europäischen Geschichte und Gegenwart, nichts Randständiges. So klingt es aber, wenn man von "Beitrag" spricht. "Anteil" bedeutet dagegen ungeteilte und unteilbare Präsenz. Ohne den jüdischen Anteil sind Deutschland und Europa unvollständig. Man sieht ja, welche äußerlichen Leerstellen die Jahre 1933-45 im Bild von Städten und Dörfern hinterlassen haben, und von wie vielen Nachbarn nur die Namen geblieben sind, auf Stolpersteinen und sonst in der Erinnerung.      

Am 9. November gedachten auch wir in Fulda der Pogrome von 1938. Im Nationalsozialismus war jüdisches Leben in Deutschland nahezu ausgelöscht, die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger wurden vertrieben oder ermordet. Wie ist es um das heutige jüdische Leben in unserer Gesellschaft bestellt? 

Manche sprechen von Wunder und Geschenk. Jedenfalls ist es keine Selbstverständlichkeit. Und selbst wenn die jüdischen Gemeinden in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland gewachsen sind, hat es nach Zahlen betrachtet nicht annähernd die Bedeutung des deutschen Judentums vor 1933. Damals lebten mehr als eine halbe Million Jüdinnen und Juden in Deutschland, heute vielleicht einmal ein Fünftel davon. Das jüdische Bildungswesen vor 1933 war international einzigartig breit aufgestellt, durch die Anstrengungen der vergangenen Jahrzehnte konnte immerhin etwas davon wiedergewonnen werden. Heidelberg, Potsdam und andere Standorte sind Signaturen für Bildung und Forschung, demnächst wird in Frankfurt die Jüdische Akademie eröffnet, einige Gemeinden haben Kindergärten und Schulen.

Jüdisches Leben ist gerade heute wieder durch verschiedene Entwicklungen gefährdet? Wo sehen Sie besondere Herausforderungen?

Die Gefährdungen sind ja augenfällig. Vor jeder jüdischen Einrichtung steht mindestens ein Polizeiwagen, und wo das nicht der Fall ist, wie vor der Synagoge in Halle zu Yom Kippur 2019, ist jüdisches Leben unmittelbar gefährdet, wird angegriffen. Jede Gewalttat, jedes böse Wort sind ein Skandal. Es gibt keine Tagesordnung, zu der man übergehen könnte. Leider geschieht aber genau das immer wieder. Reden zum 9. November sind nutzlos, wenn schon am 10. November Erinnerung, Engagement, Toleranz und Zivilcourage gerade einmal unter "Verschiedenes" abgehandelt werden. Ich denke, die größte Herausforderung, vor der wir gemeinsam stehen, ist, dass wir im eigenen Interesse selbst neu lernen müssen, uns einzumischen und den Raum nicht den Schrägdenkern und ihren Lautsprechern zu überlassen.     

Was braucht es zu einer stärkeren Partizipation jüdischen Lebens an unserer Gesellschaft?

Ich kann gar nicht einmal beurteilen, ob es eine stärkere Partizipation braucht. Sicher braucht es mehr Verlässlichkeit, um sich in allem auf diese Gesellschaft einlassen zu können. Aber im Grunde ist doch ein ganz anderer Zustand erstrebenswert: gar nicht erst über Partizipation sprechen zu müssen, sondern Selbstverständlichkeit feststellen zu können. Das gilt ja nicht nur für jüdisches Leben in Deutschland: Es sollte so sein, dass der Mensch allein interessant ist und er/sie nicht über Herkunft oder Gruppenzugehörigkeit definiert wird. Davon ist diese Gesellschaft noch weit entfernt.

Was erwarten Sie sich insgesamt von der Initiative "1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland"?

Das Interesse an Veranstaltungen, selbst online, ist ja erfreulich hoch. Die zahlreichen Gelegenheiten zum Lernen und zur Begegnung werden gut angenommen. Wenn Menschen danach besser verstehen und mehr wissen, ist schon einiges gewonnen, vor allem, wenn der Eindruck nachhält, dass Judentum, in Fulda und sonstwo, zur Gegenwart dazugehört und sie bereichert.

Der Festvortrag steht allen Interessierten offen. Er findet unter den aktuellen Corona-Bedingungen (3G; geimpft, genesen, PCR-getestet) und unter Einhaltung des sonstigen Hygienekonzeptes des Bonifatiushauses statt. Anmeldungen und weitere Informationen unter info@bonifatiushaus.de. +++

Professor Johannes Heil
Foto: Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg

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