Von Zella-Mehlis nach Fulda

Wirtschaftsgeschichte rund ums Rad: Büchel produziert Fahrradteile weltweit

Erhard Büchel
Fotos: Marius Auth

20.10.2021 / FULDA - Die osthessische Wirtschaftslandschaft steckt voller Überraschungen: In unscheinbaren Wohngegenden residieren Global Player, die weltweit auf dem Markt erfolgreich sind. So auch Büchel, seit den 1920er-Jahren Produzent von Fahrradteilen und inzwischen mit mehr als 1.000 Mitarbeitern weltweit tätig.


Im thüringischen Zella-Mehlis, nahe Suhl, liegen die Wurzeln des Familienunternehmens. Die Brüder Hugo und Karl Büchel fangen 1920 an mit Stimmgabeln und Werkzeugbüchsen, schnell wird auf Fahrradteile, vor allem Pedale und Naben, umgestellt. Im Büro von Erhard Büchel finden sich Exponate aus dieser Zeit in der Vitrine. 100 Jahre später werden nicht nur Fahrrad-, sondern auch Fahrzeugteile gefertigt, nicht nur an fünf Standorten in Deutschland, sondern auch an einem in Indien und einem in China. Wie konnte das kleine Unternehmen, dessen Verwaltung in Fulda-Niesig residiert, so lange überleben, bei weltweiter Konkurrenz und radikalem Preisdruck?

Als die Brüder Hugo und Karl am Morgen des 8. April 1946 von einer russischen Kommission informiert wurden, dass alle Maschinen demontiert würden und alle Bankkonten eingefroren, schien die junge Geschichte des Unternehmens bereits vorbei. "Fahrzeugteile Büchel" wurde der VEB Kugellager Zella-Mehlis zugeschlagen, "VEB - Vaters ehemaliger Betrieb", frotzelt Büchel. Neben dem wirtschaftlichen Ruin drohte die Besatzungsmacht zusätzlich mit politischen Prozessen, die Brüder mussten über die Grenze nach Fulda fliehen.

Goldene Nachkriegszeiten

Mit viel Glück konnten Maschinen der Adler-Werke in Frankfurt am Main erworben und nach Fulda transportiert werden. Drehbänke, Fräsmaschinen und Pressen legten den Grundstock für die Wiederbelebung des Unternehmens. Auf dem jetzigen Gelände der Hochschule Fulda, in der Ludwig-Beck-Straße, bekommen die Brüder von der Stadt Räumlichkeiten zugewiesen. Die Kundenbeziehungen waren schnell wiederbelebt: "Die Fahrradfabriken und der Großhandel kannten uns aus Zella-Mehlis und von Messen, die Teile wurden dann eben aus Fulda geliefert. Direkt nach dem Krieg waren goldene Zeiten: Sowohl im Westen als auch im Osten waren viele Betriebe komplett von den Siegermächten ausgeschlachtet worden - Maschinen, die etwas taugten, wurden mitgenommen. Für Fahrradteile gab es deswegen damals nur vier Firmen in Deutschland. Deswegen konnten wir schnell aus dem Nichts wieder aufblühen."

Erst in den 1970er-Jahren kam mit Konkurrenz aus Taiwan ein Vorgeschmack auf den Lohnstückkosten-Paradigmenwechsel, der später durch andere asiatische Marktteilnehmer, heute vor allem China, etablierte westeuropäische Firmen in Bedrängnis bringen sollte. Diplom-Wirtschaftsingenieur Erhard Büchel, der als 23-Jähriger die Geschäfte vom verstorbenen Vater übernahm, entschied sich, damals noch ungewöhnlich, für die Expansion nach Asien: "1979 haben wir eine Produktionsanlage in Malaysia aufgebaut. Die Produktion in der ehemaligen Kaserne in Fulda wurde dementsprechend verkleinert."

Schritt nach Asien

Die Reform- und Öffnungspolitik unter Deng Xiaoping brachte in den 1980er-Jahren einen riesigen Produktionsmarkt für Wagemutige: Büchel-Pedale wurden bald in Thaizhou in Lizenz produziert, als der VW Santana ab 1983 in China produziert wurde, kam die entscheidende Diversifizierung fürs Fuldaer Unternehmen: "Die Unternehmen in China konnten damals noch nicht die von Volkswagen gewünschte Qualität liefern - das war unser Vorteil. Luftausströmer im Armaturenbrett und andere Teile wurden dann von uns produziert - bis 2010 haben wir für Volkswagen 450 unterschiedliche Teile produziert."



Inzwischen sind am Standort Niesig nur noch Vertrieb und Verwaltung angesiedelt. In Zella-Mehlis, wo ab 1990 wieder produziert werden konnte, sind 30 Mitarbeiter beschäftigt, im thüringischen Barchfeld 170, im sächsischen Oederan 60, im sachsen-anhaltinischen Rothenburg an der Saale 20, im baden-württembergischen Eislingen 75, in Indien 150 und in China 600. Corona hat die Lieferung aus Asien und Indien verteuert und grundsätzlich unwägbar gemacht: "Der Preis für einen 40-Fuß-Container ist plötzlich von 1.500 auf 20.000 Dollar hochgeschnellt im letzten Jahr.

Corona zwingt zum Umdenken

Die Transitzeit von 35 auf 120 Tage. Das ist einer der Gründe, warum wir ab nächstes Jahr auch in Tschechien produzieren werden. Für günstige Sättel haben wir eine Firma in Italien gekauft - und werden in den nächsten vier Jahren insgesamt 35 Millionen Euro investieren, auch um das geostrategische Risiko zu minimieren. Eine Fahrradfelge, die in China für 3 Euro gekauft wird, kostet 1,50 Euro Transport, zusätzlich kommen heute die Unwägbarkeiten. In Europa kaufe ich dieselbe Felge für 3,80 Euro - und Just-in-time-Produktion ist möglich. Unterm Strich komme ich billiger, die Automation macht's möglich."

Wie also konnte das kleine Unternehmen aus Zella-Mehlis, dessen Inhaber mit Ach und Krach nach dem Krieg in der Barockstadt aufgeschlagen sind, so lange überleben, bei weltweiter Konkurrenz und radikalem Preisdruck? "Die Schnellen fressen die Langsamen. Langfristiges Denken und organisches Wachstum sind besser als der schnelle Euro. Ich empfinde echte Freude am Produzieren, wenn etwas entsteht, kann ich auch nach Jahrzehnten und zahlreichen Unternehmensgründungen stolz sein. Außerdem steht die nächste Büchel-Generation in den Startlöchern: Ich habe vier Kinder, bei zwei davon gibt es gute Chancen, dass sie ins Unternehmen einsteigen. Es wird also auf jeden Fall weitergehen." (mau) +++












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