Erschütterndes Zeugnis der Mitmenschlichkeit
"Chaotisch, gefährlich und berührend!" - Sebastian Reinhardt als Helfer im Ahrtal
Alle Fotos: privat
29.08.2021 / GROßENLÜDER /AHRTAL -
Die Hochwasserkatastrophe im Westen Deutschlands ist jetzt sieben Wochen her - die grauenhaften Bilder sind uns zwar allen noch allzu lebhaft im Gedächtnis, doch die Lage der betroffenen Menschen ist aus den aktuellen Nachrichten weitgehend verschwunden und durch neue Unglücke ersetzt worden.
Es gibt aber Menschen, die nicht so schnell vergessen. Und nicht nur das: Obwohl sie einen ebenso strapaziösen Job und eine fordernde Familie haben wie die meisten anderen auch, fühlen sie offenbar deutlicher als wir, wo sie jetzt wirklich gebraucht werden.
Wir konnten die Geschichte, die uns unser Leser Sebastian Reinhardt aus Großenlüder gemailt hat, zunächst gar nicht glauben. Er schildert einen völlig selbstlosen, total kräftezehrenden Einsatz im Ahrtal - und zwar ohne jede Unterstützung einer Organisation im Hintergrund - ganz allein mit einem Auto voll eigenem Werkzeug, zwei starken Armen und geschickten Händen. Er kannte im Katastrophengebiet niemanden - und wusste wenig bis nichts, was ihn dort erwartete. Sein Tagebuch liest sich zu Teilen wie ein Abenteuerroman - unausdenkbar, chaotisch und gefährlich.
Überzeugen Sie sich selbst.
Das Handwerk wurde mir in die Wiege gelegt. Ich komme vom Dorf, habe mein Haus in Eigenleistung saniert und umgebaut, meine komplette Verwandtschaft besteht aus Landwirten. Bereits in jungen Jahren hatte mich mein Vater auf jede Baustelle mitgenommen. Auch er war eigentlich hauptberuflich Bürostuhlfahrer (Fahrdienstleiter bei der DB).
Seit dem Tag der Flut habe ich die Medien verfolgt. Speziell die Facebookseiten der "Promis" der Flut wie Markus Wipperfürth und Wilhelm Hartmann von der Gärtnerei Hartmann haben mich sehr bewegt und mich nicht losgelassen. Mein folgender Bericht soll vor allem dazu dienen, die Situation der Helfer und der Betroffenen vor Ort zu verdeutlichen und Einblicke in deren Leben und Schicksale zu geben. Es geht mir definitiv nicht um Eigenlob, sondern darum, eventuell noch Unentschlossene dazu zu bewegen, sich vor Ort einzubringen. Entweder in der Organisation, tatkräftige Hilfe vor Ort, oder Geldspenden.
Eine kurzer Post bei Facebook auf Ahr-Help hat genügt und Minuten später war der Kontakt zum Krisenzentrum im bis vor kurzem nur per Luft und Behelfsstraße erreichbaren Mayschoß hergestellt und ich hatte eine Durchfahrtgenehmigung, sowie meinen ersten Einsatzort. Noch am selben Abend wurde ein großer Planenanhänger organisiert und mein Geländewagen und der Anhänger mit allem erdenklichen Werkzeug vollgepackt. Lediglich ein Platz für eine Matratze zum Schlafen wurde freigelassen.
Der erste Tag vor Ort
Morgens um 06:30 hieß es von der beschaulichen Heimat Abschied zu nehmen. Eine Woche ohne Frau und Kinder, nicht wissend, was einen genau erwartet. Bereits auf der Autobahn kurz vorm Zielgebiet ahnte man bereits, was einen erwartet. Mangels Klimaanlage fuhr ich bei offenem Fenster und bereits 30 Kilometer vor dem Ziel roch es massiv nach einem Gemisch von Abfall und Heizöl.
Um die Ortschaft Mayschoß zu erreichen, erfolgte die Anfahrt über eine einspurige Behelfsstraße, die von schweren Räumfahrzeugen in kürzester Zeit bergab durch den Wald geschlagen wurde. Eine Herausforderung für jedes Fahrzeug. In den ersten Tagen wurden festgefahrene, oder liegen gebliebene Fahrzeuge von Bergepanzern der Bundeswehr von der Strecke geschoben, um die Straße für die Rettungsmaßnahmen offen zu halten.
Kommt man aus dem Wald heraus erwartet einen das blanke Chaos. Überall schwere Maschinen, Müll und Schuttberge, es riecht streng nach Heizöl. Zum Glück werde ich von meiner Kontaktperson am Ortseingang mit dem Fahrrad abgeholt und durch die engen Gassen geleitet. Überall stehen Container mit Trinkwasser. Brauchwasser funktioniert zwar mittlerweile wieder, die Brunnen sind jedoch verschmutzt und das Wasser nicht genießbar. Strom gibt es über große Generatoren, die in den Straßen stehen. Jedoch in der Regel nur in den oberen Stockwerken, die vom Wasser verschont wurden. Auf zahlreichen Häusern findet sich mit bunter Sprühfarbe die Aufschrift "ÖL xx Ltr.", auf anderen steht in Leuchtfarbe "NO GO" (einsturzgefährdet). Handyempfang – Fehlanzeige!
Zum Glück waren bereits einige Helfer dort im Einsatz und haben Keller und Erdgeschoss vom Schlamm befreit. Jeweils bis zu 40 cm Schlamm waren in den Stockwerken zu räumen, sowie das komplette Inventar. Nichts ist mehr zu gebrauchen. Möbel, Kleidung, Erinnerungsstücke, der Schlamm - in zähes Gemisch aus Erde, Wasser und Heizöl. Nahezu alle Häuser im Ort sind auf Heizöl angewiesen, was der Region zum Verhängnis wurde.
Die Besitzer des Hauses waren zum Zeitpunkt des Unwetters glücklicherweise im Urlaub. Als sie am Haus eintrafen, kamen sie erst einmal nicht ins Haus, da die Türen sich durch Schlamm und umhergespültes Mobiliar nicht öffnen ließen. Im Erdgeschoss des Hauses gibt es keinen Boden mehr. Die Wassermassen haben die Decke zum Keller durchbrechen lassen. Als erste Aufgabe galt es die Decken in den ersten Stock zu öffnen und Dämmmaterial heraus zu holen und zu entsorgen. Danach galt es den schiefergemauerten Keller mit dem Hochdruckreiniger zu reinigen. Der Schlamm hängt noch in jeder Ritze, das gesamte Haus riecht wie eine Tankstelle.
18:30 Uhr, das Tagwerk ist vollbracht. Im Ort gibt es mehrere Versorgungspunkte, an denen es auch kostenloses W-Lan zur Verfügung gestellt wird. Verhungern und verdursten muss hier zum Glück auch niemand. Die Versorgung der Helfer ist erstklassig. DRK, Bundeswehr, private Helfer, etc, sogar die Ahmadiyya-Gemeide (Muslima) bieten täglich exotische Spezialitäten an. Den ganzen Tag ziehen Leute mit Bollerwagen und Autos durch die Straßen und verteilen Essen und Getränke. Der absolute Wahnsinn.
Um den arbeitsreichen Tag gebührend abzuschließen, stehen für Anwohner und Helfer Duschcontainer bereit. Man geht rein und ist von oben bis unten vom Staub und Dreck in braun gefärbt, man kommt raus und man fühlt sich wie neu geboren. Die Qualen des Tages sind wie weggewaschen. Zurück an meinem Anhänger will ich mich nur noch auf meine Matratze fallen lassen, da steht plötzlich die Hausherrin vor mir und bittet mich ins Haus. Sie haben zwar aktuell nicht ganz so viel Platz, aber ein kleines Gästezimmer im ersten Stock würden sie mir dennoch gerne anbieten. Dieses nehme ich dankend an. Wir sitzen noch eine Weile zusammen und man kann nur erahnen, was diese Menschen in den letzten Wochen durchmachen mussten. Die Komplettrestauration des Hauses wurde durch die Maler erst 2 Wochen vor der Flut fertiggestellt.
Es ist Sonntag. Ich habe Handyempfang! Zwar kein Internet, aber ich kann wenigstens mit meiner Familie telefonieren. Ich erfahre durch die Besitzer des Hauses, dass sie Großeltern geworden sind. Sie fahren ein paar Tage zu ihrer Tochter nach Köln und entfliehen dem Chaos nach fast 5 Wochen für ein paar Tage. Die zwei überlassen mir in der Zwischenzeit einfach so ihr Haus. Ich kenne die Familie erst seit ein paar Stunden und sie überlassen mir ihr Haus. Ich soll mich fühlen wie zuhause und darf die Wohnung nutzen, so lange ich möchte. Zu stehlen gibt es sowieso nicht mehr viel. Ich weiß nicht, was ich sagen soll…
Heute stehen Restarbeiten an. Stemmarbeiten im niedrigen Gewölbekeller bei knapp 30 Grad Außentemperatur sind sehr kräftezehrend. In den kurzen Arbeitspausen bewege ich mich durch die kleine Straße und verschaffe mir einen kleinen Überblick. Man sieht nicht viel. Alle Leute sind beschäftigt. Überall Zerstörung und ohrenbetäubender Lärm von schweren Baumaschinen, Aggregaten und Stemmhämmern. Der Sperrmüll und Bauschutt wird mehrmals täglich von den zahlreichen freiwilligen Helfern mit ihren privaten Maschinen entsorgt. Viele davon sind nach dem Einsatz reif für die Ausmusterung. Hier wird kein Material geschont. Die Maschinen werden bis zum bitteren Ende gequält. Platte Reifen und gerissene Hydraulikschläuche sind an der Tagesordnung. Zahlreiche Reifen und Hydraulikdienste bieten den Havaristen kostenlose Hilfe an. Am Reifenpoint liegen für alle erdenklichen Fahrzeuge Reifen bereit und was nicht kurzfristig verfügbar ist, wird über Nacht organisiert.
Am Nachbargrundstück treffe ich eine kölsche Frohnatur (Maria Martin). Ihr Haus (ebenfalls ein Fachwerkhaus) wurde bisher noch kaum bearbeitet. Lediglich der Hausrat und der Schlamm wurden aus dem Haus geräumt. Leider sieht man hiervon nicht viel. Nach wie vor Schlamm und Müll überall. Die Frau ist meiner Auffassung nach leider mit der Situation überfordert. Es handelt sich um ihr Elternhaus. Überall waren vor der Katastrophe angeblich noch Erinnerungen an ihre Eltern zu finden. Sie hatte es bisher nicht geschafft, sich davon zu trennen. Dies hat die Flut nun innerhalb von Minuten geschafft. Alles weg.
Im Haus selbst erwarten mich Lehmwände mit teilweise dichtem Pilzbewuchs, nasse Böden, nasse Decken, nasse Wände und das knapp 5 Wochen nach der Flut. Ich biete ihr meine Hilfe für den nächsten Tag an. Nach Abschluss meiner ersten Baustelle würde ich bei ihr weitermachen.
Um 16 Uhr habe ich meine erste Baustelle abgeschlossen und ich ziehe mit meinem Werkzeug bei Maria ein. Das Fachwerk an diesem Haus ist von außen verputzt und nicht sichtbar. Maria hat große Angst davor, dass ich das Fachwerk vom nassen, 20cm dicken Lehm räume. In einer kurzen Abwesenheit fange ich einfach an und mache die ersten Gefache leer. Der komplette Lehm und das Holz ist bereits mit einer dicken Schimmel- und Pilzschicht überzogen. Als Maria wieder kommt ist sie völlig perplex. "Du bist zwar janz schö frech, aber mach bitte weiter" war ihre Antwort auf meine Eigeninitiative. Plötzlich steht jemand mit Warnweste vor der Türe und fragt, ob ich zufällig noch ein bisschen Hilfe benötige. Es ist ein Mann vom Helfershuttle mit einem Mann in blauer THW-Montur im Schlepptau. Die Hilfe kommt mehr als gelegen. Gemeinsam öffnen wir mit Kettensägen die Küchendecke und holen den nassen Lehm zwischen den Deckenbalken heraus.
18:00 Uhr – Feierabend. Ich gehe gemeinsam mit dem Mann vom THW in Richtung Shuttle Sammelstelle. Hier gibt es alles was das Herz begehrt. Alle erdenklichen Werkzeuge, Kleidung, Sicherheitsschuhe, Stiefel, Schaufeln und Eimer, sowie Kaffee und Snacks für zwischendurch. Es ist auch der Sammelpunkt für die privaten Helfer und der perfekte Platz, um Kontakte zu knüpfen. Der so genannte "Arbeiterstrich" von Mayschoß. Wer Hilfe braucht, findet dort in der Regel alles. Auch die Jungs vom Orgateam des Helfershuttle sind dort beheimatet und so frage ich gleich 4 Helfer für den folgenden Tag an.
Am Abend nach der Dusche schaue ich mich am Versorgungspunkt an der Kirche um. Die Kirche selbst dient als Spendensammelpunkt für Helfer und Anwohner. Hier gibt es alles für den täglichen Bedarf, Essen, Kleidung, Hygieneartikel, etc., sowie Spielsachen für die Kinder, die oftmals ebenfalls alles verloren haben. Überall an den Straßen in den großen Treibguthaufen sind Spielzeuge zu finden. Wenn ich mir vorstelle, dass ich meinen Kindern einfach so die Kinderzimmer ausräume und ihre geliebten Spielsachen wegnehme, überläuft mich ein kalter Schauer.
Am Essensstand treffe ich Gertrude, die Ansprechpartnerin für die Koordination des Versorgungspunktes ist. Gertrude ist auch bereits eine Dame im Rentenalter. Ununterbrochen kommen Leute auf sie zu und versuchen Dinge mit ihr abzustimmen. Über Umwege habe ich erfahren, das Sie und ihr Mann ebenfalls alles verloren haben. Trotzdem ist sie mit ihm täglich etliche Stunden hier vor Ort und kümmert sich um sämtliche Probleme, Sorgen, Nöte und Anträge. Der Zusammenhalt in dieser außergewöhnlichen Situation ist kaum zu beschreiben.
Sie bittet mich noch mit ein paar anderen Helfern das Bettenlager im Kindergarten zu räumen. Ein altes mehrstöckiges Gebäude, in dem knapp 100 Feldbetten für die Helfer aufgestellt wurden, die mehrere Tage dort im Einsatz waren. Das Gebäude ist komplett verdreckt. Morgen kommt eine Reinigungsfirma, die die Grundreinigung durchführt, damit die Kinder des Ortes wieder in ihren Kindergarten können. Das Leben muss weitergehen und die Kinder werden sich über ein kleines Stück Normalität freuen.
Tag 3
Als erstes müssen die Tanks freigelegt werden. Dafür muss eine Wand weichen und der Bauschutt muss an die Straße gefahren werden. Pünktlich wie mit ihm vereinbart, kommt er um 08:30 an und wir bergen gemeinsam die zwei Tanks. Die Feuerwehr hat diese in den letzten Tagen bereits bis auf einen Bodensatz abgepumpt. Einen Tank nimmt er mit seiner Maschine gleich mit, der zweite wird im Laufe des Tages noch vom THW abgeholt.
Um 09:30 stehen meine Helfer vor der Tür. Voll bepackt mit den nötigen Werkzeugen. Zwei junge Pärchen. Eins von einer christlichen Vereinigung, das zweite Pärchen - eine Braumeisterin von Becks, sowie ihr Freund Lebensmitteltechnologe. Ohne lange zu fragen legen die vier sofort los. Es bedarf keiner Erklärungen. Wände werden abgestemmt, Decken freigelegt und schubkarrenweise Schutt nach draußen gefahren. Gegen Mittag beobachte ich durch das Küchenfenster im Nachbarhaus ein älteres Ehepaar. Der Mann sieht kränklich aus, die Frau trägt mühevoll halbvolle Eimer mit Bauschutt nach draußen.
Gegen 12:00 Uhr ist plötzlich Stromausfall. Alle Sicherungen wurden kontrolliert, die Nachbarhäuser werden befragt. Über zwei Stunden ist der Strom weg, keiner kann arbeiten. Wir nutzen die Zeit, um alle Räume vom Schutt zu befreien. Von offizieller Seite heißt es später, dass die Aggregate, die ganze Straßenzüge mit Strom versorgen, nacheinander gewartet werden mussten. Durch Gespräche mit THW-Angehörigen wurde dann eine ganz andere Ursache bekannt. Die Betankung der Aggregate wurde durch den Krisenstab von der Bundeswehr auf private Unternehmen umgestellt. Dies hatte zur Folge, dass die Aggregate mangels Kraftstoff nach und nach ausgefallen sind. Wer ist hier für die Organisation verantwortlich??
Kurzerhand wird aus einem Nachbarhaus, das aktuell nur über große Bundeswehr Stromaggregate mit Strom versorgt wird lange Kabel verlegt, damit wir weiter arbeiten können. In einer Arbeitspause gehe ich nach zu den Nachbarn und schaue nach dem Rechten. Sie meinten sie bräuchten vorerst keine Hilfe, sie hätten 5 Helfer angefordert. Bis Feierabend waren jedoch leider keine Helfer zu sehen und die zwei mühten sich beim Entkernen wahnsinnig ab. Nach Feierabend bin ich nochmal rüber und ich konnte ein wenig mit dem Pärchen reden (Familie Keidel). Die Frau – eine kleine Belgierin und ihr Mann – Dialysepatient. Die zwei haben sich in Belgien kennen gelernt.
Ein wirklich tolles Pärchen. Sie unterhalten sich untereinander nur auf Französisch. Auch sie mussten sich eine Übergangswohnung suchen, da das Haus nicht bewohnbar ist und die Infrastruktur eine regelmäßige Fahrt zum Dialysezentrum zur Odyssee werden lässt.
Irgendwie hat sich an diesem Tag rumgesprochen, dass ich vor Ort war. Plötzlich klingelte mein Handy und ich wurde gebeten mir noch eine andere Baustelle im Ort anzuschauen. Pünktlich zum Feierabend hat strömender Regen eingesetzt. Nichts desto trotz habe ich zugesagt. Beim Gang durch den Ort sah man immer wieder Menschen, die besorgt gen Himmel schauten. Die Angst vor Wasser und neuem Starkregen ist allgegenwärtig.
Als ich in der Dorfstraße ankam, lief mir bereits das Wasser aus der Hose. Der einzige Vorteil davon – es ist staubfrei. Endlich wieder frei durchatmen. Kein Staub, der bei jedem vorbeifahrenden Auto, bei jedem Windstoß riesige Staubwolken aufwirbelt.
Vor Ort ein älteres Ehepaar mit Tochter, die verzweifelt versuchte ihren Vater davon zu überzeugen, dass dringend etwas am Haus passieren musste. Der Vater selbst ist lungenkrank. Ich habe die Familie 45 Minuten beraten und habe mich dann unverrichteter Dinge verabschiedet mit dem Angebot, dass sie sich melden sollen, wenn sie es sich überlegt hatten. Duschen würde bei dem Regen ausfallen. Ich hatte keine Lust mehr noch 2x quer durch den Ort zu laufen. Nur noch was essen, Katzenwäsche und ab ins Bett.
Tag 4
Zum Tagesbeginn hatte ich mich damit beschäftigt auf den beiden Baustellen, die jetzt parallel liefen, die zu bearbeitenden Stellen mit Markierspray zu kennzeichnen und die Böden auf Beschaffenheit zu prüfen. Pünktlich wie immer kamen die Helfer. Ich war völlig überrascht - positiv überrascht, denn an diesem Morgen standen 12 Helfer vor mir und wollten die Baustellen rocken. 3 Mann machten Restarbeiten bei Maria, der Rest fiel auf der neuen Baustelle ein. Das Haus bebte. Mit 3 großen Stemmhämmern und 5 kleinen Stemmhämmern flog der Dreck nur so aus Fenstern und Türen.
An diesem Tag waren zwei Frauen um die 50 mit im Team. Die zwei haben gearbeitet bis zum Umfallen. Schubkarre um Schubkarre wurde von ihnen vollgeschaufelt und der Bauschutt nach draußen in den Hof befördert. Auch Bauprofis waren diesmal mit dabei. Ein Sanitärinstallateur, der sich neben den Stemmarbeiten um die Deinstallation von Heizungsanlage und Heizkörpern kümmerte, ein ehemaliger Bauschlosser und ein ehemaliger Elektriker. Der Elektriker mit seinem Kumpel hat mich bis zu meiner letzten Baustelle begleitet. Die zwei waren ein unschlagbares Gespann. Auch ein Bankkaufmann im Vorruhestand war mit dabei. Nicht immer einfach, aber an Ordnung und Sauberkeit, wenn man erst einmal alles genauestens erklärt hatte, nicht zu überbieten. Den ganzen Tag hat er eine Wand nach der anderen mit stoischer Ruhe in mühsamster Kleinarbeit abgestemmt.
Das Braumeister/Lebensmitteltechnologen-Pärchen war auch wieder mit dabei. Diese zwei haben mich heute besonders überrascht. Die zwei sind an diesem Morgen noch vor Abfahrt des Helfershuttle bei Haribo in einen Baumarkt gefahren und haben dort Maschinen im Wert von knapp 400 Euro gekauft, die sie nach getaner Arbeit an mich übergeben haben, damit ich diese am Tag meiner Abreise an bedürftige Personen weitergebe.
Beim Mittagessen an der Kirche bei der Ahmadiyya Gemeide (die machen hervorragendes Essen), war das ZDF vor Ort und befragte die Leute, was sie zum zurückgetretenen Landrat zu sagen hatten. Als wenn es aktuell nichts Wichtigeres gäbe. Warum berichtet niemand mehr über die Betroffenen??
Nach der Mittagspause kam die Nichte von Maria vorbei. Diese wohnt ebenfalls in der Nachbarschaft. Sie hat uns Vorher/Nacher-Bilder der Nachbarschaft gezeigt. Das Maß der Zerstörung ist kaum vorstellbar. Es war ein absolutes Idyll. Garten mit grüner Wiese, Pool, Palmen, etc., rundherum Häuser. Jetzt ist hier nur noch eine braune schlammige Brachfläche. Sie hat erzählt, wie sie den Abend erlebt hat. Maria war bei ihr, als die Flut kam. Im dritten Obergeschoss haben sie zusammen gewartet, bis es vorüber war und das Wasser wieder sank. Sie erzählt über Schreie, zusammenbrechende Häuser, tosendes Wasser. Aus dem Nachbarort erzählt sie eine Gegebenheit, wo Anwohner ihre Nachbarin über Stunden auf dem Dach rufen hörten. Dann war plötzlich Ruhe. Tage später hat man sie tot im Treibgut gefunden.
Straßen wurden zerstört, es gab keine Möglichkeit mehr nach Mayschoß rein, oder raus zu kommen. Evakuierungsmaßnahmen haben begonnen. Die einzige Möglichkeit war über Luft. Per Hubschrauber wurde evakuiert, in den Folgetagen Lebensmittel und Trinkwasser eingeflogen. Für mich nach wie vor unvorstellbar, obwohl ich doch die Zustände vor Ort selbst erlebt habe und jetzt hier mein Tagebuch schreibe.
Zum Mittag war Marias Baustelle abgeschlossen und die 3 Mann kamen zur Verstärkung auch rüber auf Baustelle Nr. 3. Zusammen haben wir es geschafft auch diese Baustelle innerhalb eines Tages zu 50 Prozent abzuschließen. Gemeinsam haben wir 2 LKW Bauschutt aus dem Haus geräumt, die natürlich wieder von meinem kleinen grauhaarigen Freund mit seinem Radlader abgeholt wurden. Sein Kollege mit dem LKW schaut nur noch grimmig. Ein Gespräch mit ihm kommt kaum zustande. Er ist mit seinem LKW, dem man die Strapazen ansieht, bereits seit 4 Wochen vor Ort. 7 Tage in der Woche fährt er bis zu 30 Ladungen Müll und Bauschutt auf die Zwischendeponien im Ort. Irgendwie kann man ihn verstehen.
Das war ein sehr zufriedenstellender Tag. Zum Abschluss erhielt ich von meiner Truppe die frohe Botschaft, dass 9 von 12 Mann morgen wieder hier auf die Baustelle kommen könnten. Dann wäre die Baustelle geschafft. Wir rocken das Haus!! Telefonisch berichte ich den Hausherren den aktuellen Baufortschritt. Sie wissen nicht, was sie sagen sollen.
Tag 5
Gegen Mittag kommt Klaus vorbei. Er wohnt mit seiner Familie in dem Mehrfamilienhaus gegenüber meiner ersten Baustelle im Obergeschoss und ist der Mann von Marias Nichte. Seine Wohnung ist zwar verschont geblieben, jedoch waren sie auch ohne Strom und Heizung/Warmwasser gibt wie überall im Ort keines. Der Keller mit seinen kompletten Werkzeugen ist vollgelaufen, das erst vor vier Wochen gekaufte Werkzeugset – noch original verpackt – alles Elektroschrott. Sein Elternhaus im benachbarten Marienthal hat es jedoch voll erwischt. Das Haus ist bis in den ersten Stock vollgelaufen. Ich sehe Klaus jeden Morgen alleine mit seinem "Weinbergauto" in Arbeitsmontur wegfahren. Das Auto stand laut seiner Aussage zum Glück noch im Weinberg, als das Wasser kam. Sein anderes Auto ist in der Garage vollgelaufen. Die genauen Hintergründe zu seinem Elternhaus erfahre ich erst später an diesem Abend. Voraussichtlich bekommen wir die Baustelle heute fertig. Ich biete ihm daher an, ihn in den verbleibenden zwei Tagen zu unterstützen.
Die Mannschaft leistet volle Arbeit. Gegen Feierabend haben wir die Baustelle abgeschlossen. Estrich und Fußbodenheizung rausgerissen, Wände vom Putz befreit, Heizöltanks freigelegt, Heizung und Heizkörper demontiert. Im Hof türmt sich der Bauschutt. Plötzlich höre ich draußen ein bekanntes Geräusch. Meine Freunde, der bezopfte grauhaarige Radladerfahrer und der grimmige LKW-Fahrer, stehen auf der Straße und fangen unaufgefordert an einen LKW Bauschutt nach dem anderen zu laden. Zum Schluss waren es heute knapp 3 LKW Bauschutt. Sogar die defekte Ölheizung hat er gleich aufgeladen.
Beim Aufräumen tauchte plötzlich Maria auf. Sie ist nach der Arbeit aus Köln gekommen und wollte sich den Fortschritt anschauen. Nachdem ich sie durch ihr fertig entkerntes Haus geführt habe fällt sie mir um den Hals und die Tränen laufen. Ohne die vielen Helfer hätte sie den Abrissbagger bestellt, war ihre Aussage. Jetzt hat sie wieder Zuversicht und kann in die Zukunft schauen. Nach Feierabend ging es erst einmal zu meiner Schlafstätte. Gegen Mittag kamen die Meisters vom Babyurlaub zurück. Zwei Nächte würde ich noch bei ihnen schlafen, hatte ich angekündigt. Das sei kein Problem. Hiltrud hatte sich an diesem Tag an der Kirche zur Essensausgabe als Unterstützung angemeldet. Gerd ist mit Reinigungsarbeiten beschäftigt.
Beim Abendessen an der Kirche konnte ich mich mit einem Truppführer des THW unterhalten. Dieser war sehr demotiviert. Seine Jungs hätten keine konkrete Aufgabe. Die einzige Aufgabe lautet "Präsenz zeigen". Die Koordination von Krisenstab mit offiziellen Helfern scheint immer noch nicht zu funktionieren und das mittlerweile knapp 5 Wochen nach der Katastrophe. An diesem Abend saß ich noch länger mit den Meisters zusammen. Es sind wirklich zwei fabelhafte Personen. Über sie erfuhr ich auch die Hintergründe zum Elternhaus von Klaus. Sein Elternhaus hat es wie bereits beschrieben bis in den ersten Stock erwischt. Sein Vater war nach 4 Schlaganfällen gelähmt und hat bei der Flut sein Leben gelassen. Ein Grund mehr für mich hier in den letzten 2 Tagen nochmal besonders Kraft und Energie zu investieren. (Sebastian Reinhardt)
Der zweite Teil dieses außergewöhnlichen Berichtes folgt am Mittwoch, den 1. September bei O|N.+++