Leben mit einem behinderten Kind

Liebenswert anders: "Es sind die kleinen Dinge, die uns glücklich machen!"

Kleine und große Glücksmomente gilt es festzuhalten und zu genießen
Symbolbilder: pixabay

28.06.2021 / REGION - Stefanie Vey, Jahrgang 1980, lebt in Fulda und ist Mutter eines "besonderen" Kindes. Sie erzählt: "Heute Morgen war es mal wieder so weit ... Eine Situation, wie ich sie im Alltag mit unserem Sohn tagtäglich erlebe: Wenn z. B. Situationsübergänge oder Ortswechsel unseren kleinen Mann komplett überfordern – und sei es nur der Weg nach draußen in den Garten – dann sind starke Nerven und viel Geduld gefragt. Was für Außenstehende oft gar nicht nachvollziehbar scheint, ist für uns tägliche Realität. Innerhalb weniger Sekunden ist unser Sohn in seiner "eigenen" Welt, in seinem "Tunnel", aus dem er nicht so einfach wieder herauskommt. So auch heute Morgen.

Diesmal war es wieder besonders intensiv. Er schimpfte, jammerte und weinte, wellerte sich am Boden und war sichtlich überfordert mit der Situation und vor allem: mit sich selbst. Ich weiß, dass in solchen Momenten keines meiner Worte bei ihm ankommt. Stattdessen heißt es: abwarten. Leider fehlt mir dazu meist die Zeit – oder besser gesagt die Geduld.

Doch an diesem Morgen war es anders. Ich hielt die Situation einfach aus. Das Schimpfen, Jammern und Weinen. Diesen Ton, der mich so durchdringt, dass ich glaube, mein Trommelfell müsste platzen. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sich der junge Mann endlich ein wenig beruhigte und sich selbst dazu überwinden konnte, vom Boden aufzustehen. Langsam ging er zur Garderobe und setzte sich auf seinen Hocker. Und während ich ihm seine Orthesen anzog, hörte ich ein leises "Lieb". Ich war kurz irritiert und fragte nach: "Was sagst Du?"

Noch einmal: "Lieb". Und ich wusste, was er mir damit sagen wollte. Mein kleiner Sohn, der eben noch mitten in einem seiner "Anfälle" gefangen war, hatte es gerade geschafft, sich selbst zu regulieren und zu beruhigen und mir gleichzeitig noch auf so zuckersüße Art gesagt, dass wir uns wieder liebhaben wollen. Was für andere eine ganz normale Situation im Alltag mit Kindern bedeutet, war für mich persönlich einer der schönsten Momente der vergangenen Wochen. Es sind genau diese kleinen Dinge, die mir Kraft geben."

Leben mit der Diagnose: Zwischen Zukunftsangst und Zuversicht



Stefanie Vey lebt mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn (6) in Fulda. Als bei dem kleinen Jungen im Alter von 16 Monaten die Diagnose "Fragiles-X-Syndrom" gestellt wurde, hat sich ihr Leben grundlegend verändert. Geistige Behinderung, autistische Züge, Verhaltensauffälligkeiten, Entwicklungsverzögerungen beim Laufen, Sprechen und in der Motorik – auch wenn die Eltern schon geahnt hatten, dass ihr Sohn "anders" ist, war die endgültige Diagnose dennoch ein Schlag ins Gesicht. "Die ersten Wochen waren eine emotionale Achterbahnfahrt – zwischen Traurigkeit, Hilflosigkeit und Zukunftsangst auf der einen Seite, gleichzeitig aber auch viel Zuversicht und Optimismus auf der anderen Seite", sagt die junge Mutter. Und genau diese positive Lebenseinstellung hat ihr geholfen, an der neuen Situation zu wachsen.

So hat sich vor allem auch ihr Blick auf viele Dinge verändert: "Mir wurde einmal mehr bewusst, dass nichts im Leben selbstverständlich ist. Dass wir für die kleinsten Dinge dankbar sein dürfen. Wie oft habe ich mich früher über Kleinigkeiten aufgeregt ... und plötzlich erschien das alles so banal." Doch trotz aller Zuversicht gibt sie offen und ehrlich zu: "Ich empfinde den Alltag immer wieder als große Herausforderung. Trotz aller Unterstützung und der Liebe zu unserem Kind gibt es viele Momente, in denen Probleme unlösbar scheinen und ich Angst habe, an allem zu zerbrechen."

Ein Mutmacher-Blog für andere Familien


Irgendwann hat Stefanie Vey das Schreiben als eine Art der Verarbeitung für sich entdeckt. Hier kann sie ihren Gedanken und Emotionen freien Lauf lassen und sich alles von der Seele schreiben. Daraus ist die Idee entstanden, auch andere Betroffene an ihren Gedanken teilhaben zu lassen. So hat sie Anfang 2019 ihren Blog www.liebenswert-anders.de ins Leben gerufen. Dort gibt sie Einblicke in das Leben mit ihrem "besonderen" Kind. In die schönen Momente – vor allem aber auch in die schwierigen Lebensphasen. Sehr ehrlich, authentisch und direkt. "Ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man eine solche Diagnose bekommt. Gerade am Anfang fühlt man sich so alleine mit der ganzen Situation. Mit meinem Blog möchte ich anderen Betroffenen das Gefühl geben, eben nicht alleine zu sein." Gleichzeitig gibt sie in ihren Beiträgen Tipps und Impulse, die den Alltag mit einem behinderten Kind ein wenig erleichtern. Außerdem hofft sie darauf, dass sie damit auch Menschen erreicht, die diese "besondere" Welt noch nicht kennen, und dass so etwas mehr Verständnis in der Gesellschaft entsteht. 

Buchtipp: "Vom Leben überrascht. Ein Wunschkind, eine Diagnose und geplatzte Träume"

Neben ihrem Blog hat Stefanie Vey nun auch ein Buch über die Zeit mit ihrem Sohn geschrieben. Hierin durchlebt sie die Zeit von der Schwangerschaft bis heute noch einmal ganz intensiv und beschreibt ihre Erfahrungen und Erlebnisse – vor allem die facettenreiche Gefühlswelt und die innere Zerrissenheit. Das Buch erscheint am 1. Juli und ist erhältlich beim Neufeld Verlag oder in jeder Buchhandlung. (ci/pm) +++

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