Sechs Monate zur Bewährung
"Es war Übermüdung": Jugendstrafe für Paketfahrer (19) nach tödlichen Unfall
Der folgenschwere Unfall auf der Bundesstraße 458 zwischen Petersberg und Dipperz
Archivbilder (3): Henrik Schmitt
20.04.2021 / BAD HERSFELD / DIPPERZ -
Mit gesenktem Kopf sitzt der heute 19-jährige Nils K. auf der Anklagebank. Bis heute kann er nicht verstehen, was an jenem 23. April 2020 passiert ist und wie es dazu kommen konnte. An jenem Morgen war er mit seinem Paketauslieferungsfahrzeug unterwegs, hatte Stückgut geladen. Gegen 9:50 Uhr fuhr der junge Mann auf der Bundesstraße 458 zwischen Petersberg und Dipperz (Landkreis Fulda). Plötzlich kommt er auf gerader Strecke auf die Gegenfahrbahn. Sein VW Crafter prallt frontal gegen einen entgegenkommenden Hyundai.
Die Beifahrerin in dem Auto ist wenig später im Klinikum verstorben, der Fahrer (80) wurde verletzt. Der leicht verletzte Paketfahrer gab gegenüber den Polizeibeamten an, dass er wohl eingeschlafen sei. Führte ein Sekundenschlaf zu dem tragischen Unfall? Dies konnte auch vor dem Jugendschöffengericht in Bad Hersfeld nicht abschließend geklärt werden. "Es war auf jeden Fall Übermüdung", sagte Richterin Michaela Kilian-Bock in ihrer Urteilsbegründung nach gut zweistündiger Verhandlung am Montag. Das Gericht verurteilte den jungen Mann wegen fahrlässiger Tötung zu einer Bewährungsstrafe von sechs Monaten Jugendstrafe sowie einer Geldstrafe in Höhe von 400 Euro. Ein Bewährungshelfer soll ihm bei der Aufarbeitung des Unfalls helfen. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die Verteidigung können innerhalb einer Woche Berufung einlegen.
Doch wie kam es zu der Situation? Der junge Mann jobbte bei einem Logistiker, am Tag vor dem Unfall war er von sechs bis 18 Uhr an der Arbeit. Nach der Arbeit fuhr er privat mit seiner Freundin nach Eschwege. Sein Auto hatte jedoch einen Kupplungsschaden, wurde in der Nacht abgeschleppt. Geschlafen hat er deshalb nicht. Er habe seinen Arbeitgeber angerufen, dass er nicht fahren könne. Doch der Chef habe darauf bestanden. Aus Angst, den Job zu verlieren, stieg der 18-jährige Fahrer in sein Auslieferungsfahrzeug - mit tragischen Folgen. Alkohol, Drogen oder das Handy führten nicht zum Unfall.
"Aus Sicherheitssicht dürftig ausgestattet"
Der Sachverständige Michael Katzer schilderte seine Erkenntnisse unter anderem anhand zahlreicher Luftaufnahmen vom Unfallort. Beide beteiligten Fahrzeuge waren ohne Auffälligkeit. Allerdings war der VW Crafter Baujahr 2017 "aus Sicherheitssicht dürftig ausgestattet". Kein Tempomat, keine Müdigkeitserkennung. Serienmäßig war ein Notbremsassistent eingebaut, diese habe auch circa zwei Sekunden vor dem Zusammenstoß reagiert. Deshalb müsse der Fahrer zu diesem Zeitpunkt aktiv eingewirkt haben, habe also nicht geschlafen. Was aber in den Sekunden davor war, ist unklar. Vermutlich war der junge Mann unaufmerksam, merkte nicht, dass er auf die Gegenfahrbahn geraten war. Seine Fahrgeschwindigkeit betrug circa 96 bis 104 Stundenkilometer.
Oberamtsanwältin Silke Röder sah in dem Verhalten des Mannes eine vorsätzliche Straftat. Sie sei überzeugt, dass es Sekundenschlaf war. Der Mann habe 27 Stunden vor dem Unfall nicht geschlafen. Sie forderte acht Monate auf zweijährige Bewährung und 600 Euro Geldauflage. Verteidiger Jochen Kreissl beantragte eine Verwarnung und eine angemessene Geldauflage auszusprechen.
"Er hat sehr schwer zu kämpfen"
Die Vertreterin der Jugendhilfe berichtete von mehreren Gesprächen mit dem jungen Mann gemeinsam mit dessen Mutter. Nach nicht ganz so einfachen Jahren - seine Eltern ließen sich scheiden - hat der junge Mann privat wie beruflich eine Perspektive. Er wohne bei seiner Mutter, fühle sich dort wohl, habe Kontakt zu seinem Vater und blühe in seiner Ausbildung bei einer Baufirma im Landkreis Hersfeld-Rotenburg richtig auf. Mit den Folgen des Unfalls habe er "sehr schwer zu kämpfen". Bei den Angehörigen der verstorbenen Frau habe er sich schriftlich entschuldigt. Der Fahrer des Kleinwagens war als Zeuge im Vorfeld der Gerichtsverhandlung befreit worden.
"Sie machen einen reflektierten, ernsten Eindruck", sagte Richterin Kilian-Bock zum 19-jährigen Angeklagten. Trotzdem sei die Schwere der Schuld festzustellen. "Sie hätten niemals fahren dürfen." (Hans-Hubertus Braune) +++