Großes Budget für feine Unterschiede!
Unikat statt Uniform: Bei der Maßschneiderin wird der Mann zum Herrn
Fotos: Marius Auth
24.03.2021 / FULDA -
Tweed statt Synthetik, Vollmaß statt Stange - 3.000 Euro statt 300: Wer bei Herrenmaßschneiderin Friederike Lips aus Fulda vorstellig wird, hat hohe Ansprüche und ein großes Budget für die feinen Unterschiede. Um Bewusstsein für klassische Eleganz zu schaffen, setzt die traditionsbewusste Schneiderin aber ausgerechnet auf Maßkonfektion.
90 Stunden dauert es, bis ein komplett maßgeschneiderter Anzug fertig ist. Bei der ersten Anprobe wird Maß genommen, Oberstoff, Futter, Knöpfe und Schnitt werden ausgewählt. Selbst bei der zweiten Anprobe hat der Anzug noch keine Ärmel, der Kragen ist noch nicht fertig und der Saum nur mit Baumwollfäden genäht. "Um alles noch anpassen zu können bei Bedarf. Und Kenner sehen den Unterschied: Beim Vollmaßanzug werden die individuellen Körperrundungen besser ausmodelliert - 95 Prozent der Menschen haben kein Stangenmaß. An Details wie der Einlage fürs Sakkovorderteil oder den Knopflöchern sieht man, was mit der Hand statt mit der Maschine genäht ist", erklärt Lips, die gerade am Flanellanzug letzte Hand anlegt.
Traditioneller Maßanzug für Vorstände, Künstler und Schauspieler
"Der grundlegende Unterschied ist, dass bei der Maßkonfektion mit vorhandenen Schnittmustern und Schlupfmodellen gearbeitet wird: Der Kunde zieht ein Musterteil an und man kann genügend Details anpassen, um auf die körperlichen Besonderheiten Rücksicht zu nehmen: fallende Schultern, lange Arme, größerer Bauchumfang. Wenn das Teil an den Kunden angepasst ist, können viele Arbeitsschritte von der Maschine übernommen werden - im Gegensatz zur klassischen Maßarbeit, wo so gut wie alles von Hand gemacht wird. Das spart sehr viel Zeit - und damit Geld. Ein zweiteiliger Anzug kann so 500 Euro kosten - statt 3.000 Euro.
Der traditionelle Maßanzug findet sich in der Vorstandsetage, auch bei Künstlern und Schauspielern - bei Männern, für die Distinktion und Wiedererkennungswert unerlässlich sind. Mit der Maßkonfektion lassen sich andere Zielgruppen ansprechen, dann sind unkonventionelle Stoffe, Farben und Schnitte eher denkbar." Das aufgeklappte Stoffmusterbuch lasst erahnen, was gemeint ist: Grautöne und gedeckte Farben dominieren in der Textilwelt der Herrenschneider, die auch von der Beständigkeit der stilbewussten Klientel profitiert.
"Fulda hat sich weiterentwickelt, auch modemäßig"
Was nach pragmatischem Kaufmannssinn klingt, ist in der Branche deshalb nicht unumstritten: "Mancher Schneider wehrt sich gegen den Ausbau der Maßkonfektion. Zu groß sind die Bedenken, dass Qualitätsstandards verloren gehen, wenn der Unterschied zwischen Konfektion und Vollmaß nicht mehr deutlich genug ist. Dabei bekommt man das Beste beider Welten - und damit auch neue Kundschaft." Lips, die aus Ilbeshausen-Hochwaldhausen im Vogelsbergkreis stammt, hat nach einer Ausbildung zur Maßschneiderin und Herrenmaßschneiderin und Stationen unter anderem in Köln zurück in die Heimat gefunden und ihr Atelier stilecht in der denkmalgeschützten Von-Schildeck-Villa eingerichtet.