Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel
Erfolge in der Corona-Pandemie – und jetzt...: die Große Impf-Krise?
Foto: picture alliance/dpa | Nicolas Armer
01.02.2021 / REGION -
In dieser Pandemie gibt es keine absoluten Wahrheiten. Wir treffen Entscheidungen und finden Kompromisse auf Basis aktueller Erkenntnisse und nach Abwägen unterschiedlicher Interessen. "Wir werden in ein paar Monaten einander wahrscheinlich viel verzeihen müssen", hat Jens Spahn, der Bundesgesundheitsminister im Frühjahr im Bundestag gesagt. Er hat Recht behalten, auch was sein eigenes Handeln angeht.
Und weiter geht’s: "Die Bundeskanzlerin und die Vorsitzenden der Ministerpräsidentenkonferenz haben sich darauf verständigt, am 1. Februar um 14:00 Uhr zu einem Impfgespräch zusammenzukommen", meldeten die Nachrichtenagenturen. "Impfgespräch", der Begriff weckt Assoziationen. Wie die Einladung zum Elterngespräch, wenn die schulische Karriere des Kindes einen anderen Weg nimmt, als ihn sich die Eltern erhofft hatten. Geht es um das politische Schicksal von Jens Spahn, oder darum wie es mit dem Impfenweitergeht? Wahrscheinlich stehen beide Themen auf der Agenda. Der Ausgang des Gesprächs ist offen.
Das Urteil der Deutschen fällt derweil gemischt aus. Nach einer aktuellen Umfrage im Auftrag der Bild-Zeitung bekommt die Regierung derzeit eher schlechte Noten (3,8),nur die EU (3,9) schneidet noch schlechter ab.
Deutschland in der "Impf-Krise"
Damit ist klar: Die Nachrichten zum Angebot an Impfstoff verdichteten sich zu einer veritablen "Impf-Krise". Biontech/Pfizer liefert weniger Impfstoff als vereinbart, allerdings aus gutem Grund, denn um die Kapazität der Fabrik in Belgien zu erhöhen, muss es die Produktion dort befristet zurückfahren. Vergebens warten wir noch auf einen Impfstoff des im Sommer gehypten Tübinger Herstellers Curevac. Im März wollte Donalds Trump die Firma noch kaufen, doch Investor Dietmar Hopp (SAP) legte sein Veto ein. Der Impfstoff soll nach heutigem Ermessen im zweiten Quartal 2021 zugelassen werden. Das Institut Pasteur und Merck haben ihre Impfstoff-Entwicklung sogar vorerst gestoppt.
Aber diese Entwicklung ist ebenso wenig trivial wie die Herstellung des Präparats. Das zeigt das bisher vergebliche Warten auf Impfstoffe nach einem verheißungsvollen Anfang sowie der Rückzug namhafter Hersteller und Entwickler.
Es genügt nicht, moralisch Recht zu haben, wenn man keinen Impf-Stoff in der Spritze hat.
Doch es gibt auch Indizien des Erfolgs und diese sollten nicht verschwiegen werden: Der bisher erfolgreichste Impfstoffkommt aus Deutschland. Er wird bald auch in Marburg produziert, und Sanofi öffnet eine weitere Fertigungsstätte in Frankfurt-Hoechst für die Produktion des Impfstoffs von Biontech/Pfizer in Lizenz. Damit wird ein starkes Zeichen gesetzt und ein Maßstab für Kooperation in der Krise. Es ist das Kontrastprogramm zu dem Verhalten anderer, das die Politiker und die Bürger nicht übersehen werden. Ebenso wie das Ausbleiben von Lieferungen. Mit der Aufwertung von Hoechst gibt Sanofi einen Impuls für das "Impfgespräch": Seht her, so geht’s. Die Erwartungen sind hoch. Die Politiker sind gleichsam zum Erfolg verpflichtet, und es ist nicht ausgeschlossen, dass auch andere Hersteller Kooperationen eingehen.
Fulda ist am Erfolg beteiligt!
Etwa 2,5 Millionen Impfdosen sind in Deutschland schon verabreicht, darunter etwa vier Fünftel Erst- und ein Fünftel Zweit-Impfungen. Der Impfstoff von Biontech/Pfizer immunisiert nach aktueller Erkenntnis auch gegen die bisher bekannten Mutanten des Virus.
Und überhaupt: Auf der kommunalen Ebene in Deutschland hatten Städte und Kreise, Krankenhäuser und niedergelassene Ärzte binnen weniger Tage bis zum 15. Dezember jene Zentren errichtet, in denen seither geimpft werden sollte. Lokal und regional haben wir es gut gemacht, gemeinsam handeln die Behörden, die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte und die Krankenhäuser konsequent, abwägend und verantwortungsbewusst. Wir alle tauschen uns aus und arbeiten gut zusammen. Wir treffen unsere Vorbereitungen mit Augenmaß, wir handeln nach dem Grundsatz der Vorsicht, und wir passen unser Handeln an den jeweils aktuellen und wissenschaftlich abgesicherten Wissensstand an.
Gute Zusammenarbeit in der Region
Jetzt sollten endlich auch die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen zügig geimpft werden, denn sie spielen eine wichtige Rolle in der Bekämpfung der Pandemie.
Und an alle, die noch impf-skeptisch sind: Wir wollen niemanden zur Impfung überreden oder gar zwingen. Es ist okay – wenn auch vielleicht ein wenig egoistisch - erst mal abzuwarten, wie gut "die anderen" die Impfung vertragen. Aber am Ende wird auch für die Impf-Skeptiker nur die Impfung wieder in die Normalität führen. Es sei denn, sie erkranken selbst an COVID, mit allen bekannten (und auch den unbekannten) Risiken, was aus meiner ärztlichen Sicht die deutlich schlechtere Option ist.
Auf der hessischen und der nationalen Ebene sind wir erfolgreich. Wirklich. Gemeinsam senken wir die Zahl der Neuinfektionen, den R-Wert und mit der Zeit auch die Zahl der Menschen, die an oder mit COVID sterben. Die 7-Tages-Inzidenz ist an diesem Wochenende in Deutschland unter die Marke von 100 Neuinfektionen auf 100.000 Einwohner in den letzten sieben Tagen gefallen, die Anzahl der COVID-assoziierten Todesfälle, die ja immer etwas "nachläuft", auf unter 800.
Doch diese Erfolge sollten uns nicht zum Leichtsinn verleiten, die Restriktionen zu früh zu lockern. Wir haben schließlich erst im Oktober erlebt, wie sich die Zahl der Infizierten im Abstand von zwei Wochen mehr als verdoppelt hat. Ende September lagen wir bei 2.000 neuen Fällen am Tag, zwei Wochen später schon bei mehr als 4.000 und Ende Oktober schon bei 15.000. Erst heute, drei Monate später und nach Wochen der Restriktionen sowie einem Gipfelpunkt der Zahl der Neuinfektionen am Tag von etwa 33.000, sind wir dort, wo wir Ende Oktober waren.
Wir wollen ein Virus in all seinen Varianten bekämpfen!
Angesichts dieser Aussichten ist es jetzt nicht an der Zeit, weitere Lockerungen zu fordern oder zu erwägen. Stattdessen ist es richtig, die potentielle Einreise des Virus möglichst zu beschränken. Dann aber bitte nur in konstruktiver Abstimmung mit den jeweiligen Ländern, die wir mit einer Restriktion belegen. Im Frühling vorigen Jahres haben wir mit Grenzschließungen ohne begleitende Kommunikation viel Vertrauen zerstört. Das darf nicht wieder passieren. Wir wollen ein Virus in all seinen Varianten bekämpfen und nicht die Menschen oder andere Staaten. Die Eindämmung der Seuche gelingt am besten im guten, transparenten Einvernehmen miteinander, wie uns die Ereignisse in den Tagen vor dem "Impfgespräch" vor Augen geführt haben. (Thomas P. Menzel) +++