Zwischen Brüssel und Home-Office

Deutschlands Kopf der EU-Ratspräsidentschaft: Michael Roth (SPD) zieht Bilanz

Daumen hoch für Europa: Der heimische Bundestagsabgeordnete Michael Roth war einer der führenden Köpfe während der deutschen Ratspräsidentschaft
Fotos: Büro Michael Roth

07.01.2021 / BAD HERSFELD / BERLIN - "Meine wohl letzten Unterschriften als Vertreter der Präsidentschaft leiste ich am heimischen Schreibtisch in Nordhessen: die Vollmachten zur Unterzeichnung des Abkommens zwischen der Europäischen Union und Großbritannien", schreibt Michael Roth zwischen den Jahren auf seiner Facebook-Seite. Wegen der Corona-Pandemie war auch für den heimischen SPD-Politiker im Jahr 2020 vieles anders als geplant.


Der 50-jährige Roth sitzt seit 1998 als direkt gewählter Kandidat aus dem Wahlkreis 169 Werra-Meißner / Hersfeld-Rotenburg im Bundestag und hat sich zu einem der führenden Politiker der Bundesregierung in Europa gemausert. Zwischen Brüssel, Berlin und seinem Homeoffice in Bad Hersfeld hat er als maßgeblicher Kopf die Fäden der deutschen EU-Ratspräsidentschaft geführt.

Im Exklusiv-Interview mit OSTHESSEN|NEWS-Redakteur Hans-Hubertus Braune blickt der Staatsminister für Europa auf die Ergebnisse der zuweilen intensiven Verhandlungen. Zunächst aber nimmt Roth Stellung zu den aktuell hitzigen Diskussionen im Zusammenhang mit den knappen Liefermengen für die Corona-Schutzimpfungen mit dem Impfstoff von Biontech / Pfizer.

O|N: In Deutschland wird die Impfstrategie der Bundesregierung gemeinsam mit der Europäischen Union intensiv diskutiert. Der Vorwurf ist, dass Deutschland zu wenig Impfstoff beim bislang einzigen zugelassenen Impfstoff von Biontech Pfizer bestellt hat. Hat die gemeinsame Bestellung und damit verbundene Geste, gemeinsam handeln zu wollen, eine schnellere Versorgung mit dem Corona-Schutzimpfstoff in Deutschland blockiert?

Michael Roth: "Selbstverständlich kann man über die Impfstoff-Strategie streiten – ob die der EU, des Bundes oder der Bundesländer. Ich verstehe beispielsweise auch nicht, warum die vor Ort längst ausgelieferten Impfdosen noch nicht verimpft wurden. Jeder Tag kann hier Menschenleben retten. Aber die EU taugt nun dafür wirklich nicht als Sündenbock. Da wir alle wissen, dass Corona keinen Pass hat und sich nicht um nationale Grenzen schert, ist ein europaweites Vorgehen richtig. Das vergangene Jahr hat doch gezeigt, dass nationale Alleingänge, Egotrips und Abschottung nichts besser machen. Vor Monaten wusste noch niemand, welche Impfstoffe zuerst zugelassen werden. Wer hätte es verantworten können, auf einen einzigen Hersteller zu setzen? Jetzt sind Solidarität und Teamgeist gefragt, damit wir Menschen schützen und sicher reisen können. In einem Europa der offenen Grenzen – alleine Deutschland grenzt an neun Nachbarstaaten – ist es in unser aller Interesse, dass die Pandemie auch in unserer europäischen Nachbarschaft erfolgreich durch Impfungen bekämpft wird – und zwar möglichst umfassend, schnell und sicher."

O|N: Welche persönliche Bilanz ziehen Sie aus der Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union in den vergangenen sechs Monaten?

Michael Roth: "Das waren sechs Monate mit viel Verantwortung, großen Aufgaben und hohen Erwartungen. Natürlich hat die Corona-Pandemie diese Ratspräsidentschaft maßgeblich geprägt – nicht nur inhaltlich. Viele Sitzungen konnten nicht in Brüssel stattfinden, sondern nur per Videokonferenz. Das hat es nicht einfacher gemacht. Trotz dieser schwierigen Umstände fällt meine Bilanz positiv aus. Als Moderator, Verhandlungsführer, Ideengeber und Brückenbauer haben wir hart dafür gearbeitet, dass die EU gemeinsam und solidarisch aus dieser Krise kommt. Mit Erfolg: Wir haben ein großes Finanzpaket im Gesamtvolumen von 1,8 Billionen Euro beschlossen, um die besonders betroffenen Staaten und Branchen beim Wiederaufbau nach der Pandemie zu unterstützen. Und wir haben die EU als Werte- und Rechtsgemeinschaft mit neuen Instrumenten deutlich gestärkt."

Wirken sich die Beschlüsse auch für unsere Region aus? Wenn ja, in welcher Form?

Michael Roth: "Das tun sie. Auch in den kommenden Jahren werden viele Projekte, Betriebe und Kommunen aus der Region von Fördermitteln aus dem mehrjährigen EU-Haushalt profitieren, den wir jetzt unter deutscher Ratspräsidentschaft beschlossen haben. Alleine von 2014 bis 2018 sind rund 61 Millionen Euro aus den EU-Förderprogrammen in den Landkreis Hersfeld-Rotenburg geflossen, dazu zählen beispielsweise Zahlungen an Landwirte, Mittel für den Breitbandausbau, Tourismusförderung oder zur Bekämpfung von Armut und Arbeitslosigkeit. Darüber hinaus ergänzt das beschlossene EU-Wiederaufbauprogramm mit seinen fast 750 Milliarden Euro die umfangreichen Corona-Hilfen des Bundes – auch das hilft uns am Ende dabei, die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie vor Ort abzumildern."

O|N: Wie sah Ihr Arbeitsalltag besonders im Hinblick auf die Corona-Pandemie aus?

Michael Roth: "Wie für viele Bürgerinnen und Bürger hat sich auch mein Arbeitsalltag mit dem Ausbruch der Pandemie auf den Kopf gestellt. An die Stelle von Ausschusssitzungen und Dienstreisen traten plötzlich Videokonferenzen und Telefonschalten. Regelmäßiges Homeoffice war auch für mich eine ganz neue Erfahrung. Und es hat sich gezeigt: Verhandlungen sind bisweilen deutlich zäher und komplizierter, wenn man sich dabei nicht gegenüber sitzt. Besonders gefehlt haben mir auch die persönlichen Begegnungen im Wahlkreis. In Zeiten der Pandemie konnten Vor-Ort-Termine und Dialogveranstaltungen mit Bürgerinnen und Bürgern fast gar nicht mehr stattfinden."

O|N: In einem Interview haben Sie gesagt, dass Ihnen vor allem die direkten Kontakte in den Kaffeepausen gefehlt haben?

Michael Roth: "Ja, das stimmt. Ob es sich nun um den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen in der Mittagspause oder um ein Gespräch mit einer Bürgerin im Supermarkt oder einem Bürger in der Fußgängerzone handelt. Vieles lässt sich von Angesicht zu Angesicht einfach deutlich besser besprechen als per Email oder Telefon. Trotzdem habe ich mich auf die neuen Bedingungen eingestellt und deshalb vermehrt auf Formate wie telefonische Sprechstunden für Menschen aus meinem Wahlkreis gesetzt. Meine sowieso schon hohe Präsenz in den sozialen Medien – also bei Facebook, Instagram und Twitter – habe ich nochmals deutlich erhöht. Hier erreiche ich Zehntausende von Menschen direkt und ungefiltert."

O|N: Sind Sie insbesondere in Bezug auf das Thema Rechtsstaatlichkeit mit den Ergebnissen / Kompromissen zufrieden?

Michael Roth: "Rechtsstaatlichkeit ist das Fundament unserer europäischen Wertegemeinschaft. Doch in den vergangenen Jahren hat uns das Thema eher gespalten als geeint. Natürlich ist dieser Streit noch nicht zu Ende. Aber es ist uns während der deutschen Ratspräsidentschaft gelungen, zwei neue Instrumente einzuführen, die dazu beitragen sollen, die Rechtsstaatlichkeit besser zu schützen und wieder zu einem gemeinsamen Verständnis unserer Werte zu kommen. Dass die Auszahlung von Mitteln aus dem EU-Haushalt künftig erstmals an die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien gekoppelt wird, ist ein Riesenerfolg und ein klares Signal an alle Mitgliedstaaten. Mit dem neuen Rechtsstaatsdialog werden auf Grundlage eines ausführlichen Berichts der EU-Kommission alle Mitgliedstaaten überprüft und bewertet."

O|N: Ein Dauerthema war/ist der Brexit. Wie wird sich der Deal auf die künftige Zusammenarbeit mit Großbritannien auswirken?

Michael Roth: "Wir haben immer betont: Wir wollen ein faires Abkommen und so enge Beziehungen mit dem Vereinten Königreich wie möglich – aber eben nicht um jeden Preis, nicht zulasten der Menschen in der EU, nicht auf Kosten unserer Wirtschaft, von Umwelt- und Sozialstandards. Dass nach zähen Verhandlungen kurz vor Weihnachten doch noch eine Einigung gelungen ist, war lange überfällig. Der EU-Austritt des Vereinigten Königreichs ist schmerzhaft und kennt auf beiden Seiten eigentlich nur Verlierer. Schade, dass es soweit kommen musste! Das Einzige, was ich dem Brexit abgewinnen kann, ist, dass er nochmal ein Warnsignal ist an all diejenigen, die meinen, Probleme dadurch zu lösen, indem man den Club verlässt. Die EU ist allemal besser als Abschottung und nationale Alleingänge."

O|N: Mit welchen Gefühlen blicken Sie dem Jahr 2021 entgegen?

Michael Roth: "Das neue Jahr gehe ich zuversichtlich und hoffnungsfroh an. Die kommenden Wochen werden uns sicher nochmal viel abverlangen. Doch ich bin guter Dinge, dass es uns mit einer gemeinsamen Kraftanstrengung und der zunehmenden Verfügbarkeit von Impfstoffen im Laufe der nächsten Monate gelingen wird, die Corona-Pandemie bis zum Sommer Schritt für Schritt zu überwinden. Die sozialen und wirtschaftlichen Folgen werden uns aber sicher noch deutlich länger beschäftigen. Und noch etwas macht mir Hoffnung: die Solidarität zwischen den Menschen. Der Zusammenhalt der vergangenen Monate hat uns stark gemacht. Das wünsche ich mir auch für 2021."

O|N: Welche persönlichen Ziele haben Sie für dieses Wahljahr?

Michael Roth: "Die Entscheidung, mich noch einmal um das Bundestagsmandat für den Wahlkreis Werra-Meißner/Hersfeld-Rotenburg zu bewerben, habe ich mir ganz und gar nicht leicht gemacht. Nach vielen Gesprächen und reiflicher Überlegung habe ich meiner Partei vor einigen Wochen mitgeteilt, dass ich bei der Bundestagswahl im September erneut ins Rennen gehen möchte, wenn die SPD dies wünscht. Denn es gibt noch eine Menge zu tun. Dafür bitte ich jetzt um Unterstützung – zunächst bei meiner Partei, dann bei den Wählerinnen und Wählern. Mein Anspruch ist, zu zeigen, dass man als Sozialdemokrat auch in schwierigen Zeiten überzeugende Politik machen und Wahlen gewinnen kann. Ich freue mich auf einen fairen, kreativen Wahlkampf." (Hans-Hubertus Braune) +++

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