Der Stadtpfarrer bei O|N
Impulse von Stadtpfarrer Stefan Buß: Die zwei Laternen
Foto: Hendrik Urbin
03.01.2021 / REGION -
Aber dieser Verrückte hatte sie mit dieser Frage zugleich beunruhigt. Sie haben ja genau verstanden, was er sagen wollte mit seiner Suchlaterne: Leute, ja Leute haben wir genug; aber Menschen – die kannst du suchen. Sehe ich inmitten der Leute noch den Menschen? Sehe ich in der alten Frau mit ihrem runzeligen Gesicht noch den Menschen? Noch den Menschen im Demenzkranken von nebenan, im Behinderten, im Sterbenden? Sehe ich noch die fragenden Augen eines Kindes, die müden Augen eines Depressiven? Nicht wenige hat unsere Gesellschaft mit ihrem Erfolgsdruck, ihren Leistungszwängen, ihrer Optimierungsideologie an den Rand gespült. Mancher ist im Leben untergegangen, hat den Glauben an seine Würde verloren, weil er vor lauter Leuten so wenig Menschen begegnet ist. Mit seiner Suchlaterne am helllichten Tag wollte Diogenes den Leuten sagen: Ich suche den Menschen!
In Bethlehem ist ein Kind geboren, eingewickelt in Windeln. Es liegt in einer Krippe. Gott wird Mensch. In diesem kleinen Kind sucht Gott den Menschen. Er sucht nicht die Leute; nicht das Bad in der Menge. Gott sucht den Menschen inmitten der Leute. Sucht den Einzelnen mit seiner je eigenen Lebensgeschichte, mit seinen Fragen und Sorgen, Erwartungen und Enttäuschungen. Sucht ihn nicht mit der Laterne, sucht ihn mit der Liebe. Ich bin Gott so wichtig, dass ER mich in diesem Kind zu Bethlehem sucht. Mich – in meiner Größe und Schwäche, in meiner Seligkeit und Armseligkeit. Ich stelle diese Laterne zur Krippe. Zum Kind, in dem Gott wahrer Mensch geworden ist. Gottes Sehnsucht ist der Mensch. Gottes Sehnsucht sind Sie und ich. Er sucht mich mit der Laterne seiner Liebe und seines Erbarmens.
Friedrich Nietzsche erzählt von Suche nach dem wahren Gott
Die 2. Laternengeschichte hat der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche aufgeschrieben. Er erzählt von dem "tollen Menschen" – einer Figur, in der er sich wohl selbst widergespiegelt sieht – erzählt von dem "tollen Menschen", der am helllichten Vormittag eine Laterne entzündet. Mit ihr läuft er über den Marktplatz und ruft unaufhörlich: "Ich suche Gott!" Die Leute lachen ihn aus und fragen: "Ja, ist er denn verloren gegangen!" Er antwortet: "Ich will es euch sagen: Wir haben ihn getötet. – ihr und ich!" Er wirft seine Laterne auf den Boden, so dass sie zerbricht und erlischt. Wo finde ich – so deute ich diese Erzählung – wo finde ich den wahren Gott. Einen Gott, der nicht krank macht und Angst einjagt; mich klein hält, weil ER alles von mir weiß, auch was in dunkler Nacht geschieht. Ein solches Gottesbild hat Menschen oft depressiv und einsam gemacht; hat so manches Leben gelähmt.