Mein O|N-Jahr 2020

Carina Jirsch: "Es war ein leises, introvertiertes Arbeiten"

2020 war ein Jahr des leisen Beobachtens
Foto: Walter Rammler

01.01.2021 / REGION - Es fällt mir schwer, 2020 etwas Positives abzugewinnen. Wo ich sonst immer darauf geachtet habe, menschliche Emotionen und Nähe fotografisch festzuhalten, so muss ich jetzt bei Presseterminen immer daran erinnern, Abstand zu halten und Maske zu tragen. Für mein Empfinden wirken die Bilder oft statisch und distanziert, genauso, wie wir unser Leben seit fast einem Jahr leben müssen. Ich habe in einer etwas längeren Bilderserie meinen persönlichen Jahresrückblick zusammengefasst. 



Im Januar hatte ich noch das Glück, drei Wochen mit meinen Eltern auf Curacao zu verbringen, um mich in der Sonne von einem vollgepackten 2019 zu erholen und um Kraft für das neue Jahr zu tanken. Wer hätte zu diesem Zeitpunkt geahnt, dass der Terminkalender überschaubar sein wird und man eher psychische Anspannungen verdauen muss, anstatt Arbeitsstress.
 
Zwar hatte ich im Urlaub das Corona-Geschehen in China über die Medien verfolgt, aber es schien sehr weit weg zu sein. Kaum zurückgekommen, hatte die Pandemie anscheinend über Nacht Europa erreicht. Die Karnevalssaison war bereits im vollen Gange und meine Kollegen und ich sind wie Duracell-Männchen von einer zur nächsten Veranstaltung getingelt, um in gut gefüllten Sälen lauthals feiernde Menschen abzulichten. Auch wenn die Nächte lang waren und man unter ständigem Termindruck stand, erwische ich mich dabei, melancholisch zu werden, da man an solche Events in unmittelbarer Zukunft überhaupt nicht denken kann.

Stilles Fulda, bizarre Motive

Der erste Lockdown im März hat bizarre Motive von einem stillgelegten Fulda geboten, die unheimlich, aber auch interessant wirkten, da die Stadt eigentlich immer bunt ist und boomt. Ohne die traditionellen Veranstaltungen hatte ich auch mal die Zeit, mit meiner Kamera umherzufahren, um Impressionen aus der Region einzufangen. So hatte ich beispielsweise intensive Begegnungen mit den verschiedensten Tierarten, ob mit aufgeweckten Affen im Erlebnispark Schotten, majestätischen Steinböcken im Wildpark Gersfeld, Damwild im Heimattiergarten Fulda oder neugierigen Alpakas in Steinau.
 
Leider hat sich unsere Berichterstattung in diesem Jahr nun einmal hauptsächlich um Corona gedreht, genauso wie bei den anderen Medien weltweit. Öfters haben sich Leser auf unseren sozialen Kanälen darüber beschwert, dass wir nur noch dieses eine Thema hätten und ob wir denn nicht mal über etwas anderes berichten könnten. Glauben Sie mir, sehr gerne hätte auch ich lieber die verschiedensten Veranstaltungen dokumentiert und gut gelaunte Menschen fotografiert, aber man kann diese traumatisierende Zeit nicht ignorieren, nur weil der ein oder andere nichts davon wissen möchte. So befragte ich im April Freunde von mir aus Italien, Großbritannien, Schweiz, Island, Spanien, Frankreich, Belgien, New York und Los Angeles, wie sie persönlich von der Pandemie betroffen sind. Deren Geschichten haben mich sehr betroffen gemacht, da jeder von ihnen sein Päckchen zu tragen hat, ob gesundheitlich, finanziell oder existenziell. Man sollte eines nicht vergessen: Wir sitzen alle im selben Boot. 
Schmerzhaft vermisse ich den unbeschwerten Umgang mit meinen Kollegen. Zwar sind unsere regelmäßigen Videokonferenzen eine gute Basis, um in Kontakt zu bleiben, aber nichts geht über einen Gedankenaustausch bei einem Tässchen Kaffee.  
 
Ein kleines Highlight war das Konzert von Guildo Horn und den Orthopädischen Strümpfen im August auf dem Sportplatz in Hofbieber-Elters vor etwa 300 Leuten. Obwohl es Musik ist, die Welten von dem weg ist, was ich normalerweise höre, tat es wahnsinnig gut, die Energie von Guildo und dem ausgelassenen Publikum festzuhalten. Nachdem ich genügend Fotos im Kasten hatte, setzte ich mich ins Gras und beobachtete die Show mit einem zufriedenen Lächeln im Gesicht. Genauso sollte ein perfekter Abend an einem lauwarmen Sommerabend aussehen, aber dieses Jahr war nun einmal alles anders. Bühnenfotografie ist mein Steckenpferd und ich kann es kaum erwarten, Künstler und Publikum wieder in ihrem Element zu erfassen.

Bewegend, emotional: Die Berichterstattung im "Danni" 

Meine Vogelsberger Kollegin Luisa Diegel berichtet schon seit letztem Jahr ausführlich über die Aktivisten und deren Besetzung des Dannenröder Forstes, die gegen die drei Kilometer lange Rodung für den geplanten Ausbau der A49 demonstrieren. Ende September war ich dann erstmals selbst vor Ort, um Luke Mockridge abzulichten, der sich für eines seiner TV-Formate in Szene setzte. Viel relevanter für mich waren jedoch die Camps in den Baumwipfeln, die mich visuell schlichtweg überwältigt haben. Sofort wusste ich, dass spannende Einsätze vor uns liegen würden. 

Am 1. Oktober war es dann so weit. Die ersten Baumfällarbeiten standen an. In den frühen Morgenstunden machten wir uns auf den 1,5 Stunden langen Weg in Richtung Dannenrod, wo uns filmreife Szenen erwarteten. Scheinbar endlose Polizeikarawanen fuhren mit Blaulicht durch das kleine Dorf gen Wald, um die ersten Baumhäuser zu räumen.

Diese unberechenbare Art der Berichterstattung über mehrere Wochen hat genau meinen Nerv getroffen. Trotz des ganzen Trubels war es ein leises und introvertiertes Arbeiten, da man besonders auf die kleinen Details achten musste, um ein umfassendes Bild zu erlangen. Man fotografiert genau das Geschehen, was vor dem Auge passiert, ohne eine zweite Chance zu bekommen.  
Interessant waren die Unterhaltungen mit Aktivisten und deren Hintergründe. Einer ist Student, der andere in einer Partei und eine junge Frau ist seit ihrem Abitur vor fünf Jahren Aktivistin aus Überzeugung. Manche von ihnen haben Kontakt mit den Eltern, die auch hinter ihren Kindern stehen, andere haben den Kontakt abgebrochen. Manche Eltern denken, dass die Kinder studieren und wissen gar nicht, dass die Sprösslinge im Wald sitzen. Eines wurde mir von Anfang an klar: die Medien wurden von den meisten Waldbesetzern als Schutzschild wahrgenommen.

Jedoch hat mich ihr teilweise radikales Verhalten fassungslos gemacht. Es gibt keine Entschuldigung dafür, Polizisten tätlich anzugreifen oder sie ununterbrochen verbal zu beleidigen. Ich habe großen Respekt vor dem monatelangen Einsatz der Beamten, welche die Besetzung des Waldes gewaltfrei beenden wollten. Was ihnen am Ende auch gelungen ist.

Mein persönlicher "Danni"-Abschied

Durch Zufall kam ich am 11. Dezember dazu, als die allerletzte Baumbesetzerin (außerhalb der Rodungsschneise) von SEK-Kletterern wieder auf den Boden (der Tatsachen) gebracht wurde. Mittlerweile waren alle anderen Medienportale schon abgezogen, somit hatte ich die Gelegenheit, ohne Trubel meinen persönlichen Abschied von unserem Einsatz im Dannenröder Forst zu nehmen.

Der zuständige Förster hatte wohl einen Schaden am Baum durch die Bebauung festgestellt und ließ ihn kurzerhand absägen. Eine Aktivistin namens Flauschi betrauerte lauthals die Fällung, als sie versuchte, alles noch Brauchbare aus den Trümmern zu holen. Sie krabbelte in das eingestürzte Baumhaus und hielt nachdenklich ein Teelichthäuschen mit ihren verdreckten Fingern, welches sie ein paar Tage vorher der gerade erst geräumten Bewohnerin geschenkt hatte. Es war eine schmerzhafte Realisation für sie, dass nun das Ende ihrer Besetzung endgültig da war. Als ich durch einen Riss in das Innere des Hauses schaute, sah ich eine Knoblauchzehe liegen und fragte Flauschi, was es damit auf sich habe. Mit einem Grinsen verriet sie mir, dass es Taschenknoblauch sei, den man sich in den Mund steckt, kurz bevor man von der Polizei in Gewahrsam genommen wird …
 
Nun steht 2021 vor der Tür und ich versuche, positiv in die Zukunft zu blicken, aber so ganz leicht fällt es mir nicht. Genau wie mit der Fotografie, sollte man sich vielleicht eines vor Augen halten: Eine leichte Veränderung der Perspektive, kann manchmal ein besseres Licht auf die Dinge werfen. (Carina Jirsch) +++

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