"Ich hab echt keinen Bock mehr auf Hass"

Reichspogromnacht 1938 - Gedenkandacht im Lockdown am Schillerplatz

Der junge Prediger Jonas Olischer (links) sprach das geistliche Wort, Dr. Rolf Göbel wandte sich mit eindrücklichen weltlichen Worten an die Anwesenden. In der Mitte Werner Schnitzlein.
Fotos: Gudrun Schmidl

09.11.2020 / BAD HERSFELD - Die AHA-Regeln in der Corona-Pandemie mussten eingehalten werden bei der diesjährigen Gedenkandacht an die Reichspogromnacht 1938 an der Gedenkstätte am Schillerplatz, zu der die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) und die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Bad Hersfeld-Rotenburg eingeladen haben. Nur wenige Meter entfernt von dem unmenschlichen Geschehen vor nunmehr 82 Jahren, das traurige Berühmtheit erlangte. Die Hersfelder Synagoge brannte als erste in Deutschland. Die Feuerwehr löschte ausschließlich die angrenzenden Häuser.



Von jüdischen Mitbürgern wurde die Stadt als "Hochburg des Antisemitismus" beschrieben. Die Hersfelder Bürgerinnen und Bürger blieben stumm, haben weggeschaut, sich taub gestellt. Die Polizei sah weg. Auch die Zivilcourage der Kirchen ließ zu wünschen übrig. Ungefähr 1.200 Synagogen und jüdische Gebetshäuser wurden in jenen Tagen deutschlandweit geschändet und niedergebrannt.

Werner Schnitzlein, Vorsitzender der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit Hersfeld-Rotenburg, begrüßte zahlreiche Repräsentanten des öffentlichen Lebens, darunter den Vorsitzenden der jüdischen liberalen Gemeinde Felsberg, Christopher Willing. Schnitzlein erinnerte, dass an diesem Sonntag die ökumenische Friedensdekade beginnt. "Das ist uns Anlass, auch diesem Gedenken an die Pogrome vom November 1938 das Motto "Selig sind, die Frieden stiften" zu geben.  

Das Gedenken gestalteten weiterhin Pfarrer Rainer Bätzing, Pfarrer Holger Grewe und die Pfadfinder und Konfirmanden der Johannes-Kirchengemeinde sowie Annette Willing aus Felsberg, die mit dem Totengedenken und ihrem in deutscher Sprache vorgetragenen jüdischen Gebet, das sie anschließend auf Hebräisch sang, für einen berührenden Moment sorgte. Das geistliche Wort sprach Jonas Olischer, ein junger Prediger, im CVJM und in der Kirche aktiv. Er gab zu, dass er von den damaligen Gräueltaten keine Ahnung hat. Aber er weiß, was am Sonntag vor 82 Jahren passiert ist und benennt es beim Namen: "Meine Vorfahren haben eine riesengroße Scheiße gebaut!" Es gibt für ihn absolut keine Rechtfertigung für diese Taten.

"Meine Generation ist gesättigt mit Wissen über die dunkle Vergangenheit unseres Landes. Damals waren die Menschen böse. Damals, unsere Vorfahren, die haben etwas falsch gemacht. Aber wir sind anders. Wir wissen, was gut und was böse ist. Wir sind nicht anfällig für so etwas! Wir haben eine weiße Weste. Wenn wir denken: "Mir könnte sowas nie passieren", machen wir es uns wahrscheinlich zu einfach". Jonas Olischer gibt zu bedenken, dass Hass auch heute noch unter uns wohnt und befürchtet, dass die Wurzeln dessen, was damals in Deutschland gewuchert hat, auch heute noch unter uns keimen.

"Lassen sie uns Frieden stiften!"


"Ich glaube, es geht bei so einem Gedenken nie nur darum, einzelne Taten zu verurteilen. Es geht nicht darum, eine Epoche, eine Generation zu verurteilen. Es geht darum, das Wesen der Menschheit nachhaltig zu verändern. Indem wir uns an die Vergangenheit erinnern. Olischer appellierte an die Anwesenden: "Lassen sie uns Frieden stiften. Ich hab nach einem guten Geschichtsunterricht nämlich echt keinen Bock mehr auf Hass!"

Dr. Rolf Göbel, der das weltliche Wort ergriff, vertrat damit Karsten Vollmar, der genau wie Dr. Ann-Cathrin Fiß wegen Quarantäne nicht anwesend sein konnte. Dr. Rolf Göbel  erinnerte daran, dass diese Pogrome den Übergang von der Diskriminierung der deutschen Juden seit 1933 zur systematischen Verfolgung und Ermordung in ganz Europa mit mehr als sechs Millionen Opfern markierten. "Dieser Zivilationsbruch der Menschheitsgeschichte ist eine Schande"!  Er klagt an: "Der Antisemitismus war nie weg und zeigt sich in hässlicher Fratze" und verweist auf den verachtenswerten Angriff auf die Synagoge in Halle vor wenigen Wochen. Auch er fordert auf: "Stellen wir uns dem Antisemitismus entgegen".

Die Gedenkveranstaltung wurde musikalisch begleitet von dem Posaunenchor des CVJM und der evangelischen Kirche in Bad Hersfeld unter der Leitung von Gesa Hild. Alexander Maier, der die Veranstaltung mit Sologesang bereichern sollte, musste ebenfalls kurzfristig wegen Quarantäne absagen. (Gudrun Schmidl) +++

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