"Eine Handvoll Leben"

Frühchen Melina hat sich ins Leben gekämpft - Prof. Dr. Repp berichtet

Prof. Reinald Repp und sein Team halfen Melina zu überleben
Alle Fotos: Martin Engel

05.06.2020 / FULDA - Die kleine Melina, das jüngste Frühchen der Welt, hat in ihrem jungen Leben schon für jede Menge Schlagzeilen gesorgt. Mit einem Geburtsgewicht von gerade 450 Gramm und 25,5 Zentimetern Länge kam sie nach nur 21 Wochen und vier Tagen bei einer unvorhergesehenen Hausgeburt zusammen mit ihrem Zwillingsbruder zur Welt. Der kleine Junge starb wenig später, doch Melina konnte auf der Frühgeborenenstation des Klinikums gerettet werden. Seit kurzem ist das Kind nach fast 14 Monaten im Krankenhaus nach Hause entlassen worden und spricht schon die ersten Worte. "Sie sagt schon Mama und Papa", berichtet am Donnerstag der stolze Chefarzt der Kinderklinik und Neontalogie, Prof. Dr. Reinald Repp bei einer Pressekonferenz im Klinikum Fulda.



Gemeinsam mit seinem Team berichtete Prof. Repp vor großem Medienaufgebot im Hörsaal des Klinikums von den lebenswidrigen Umständen, unter denen Melina am 5. März 2019 zur Welt kam. Mit dem Rettungswagen waren die beiden Frühchen ins Klinikum, was sich als großes Glück erwies. Denn bei solch unreifen Kindern bestehen große Risiken, dass Komplikationen im Bereich von Lunge, Hirn, Darm und Augen auftreten. Auch die kleine Melina litt längere Zeit unter Lungenproblemen. In den 14 Monaten ihres Klinikaufenthalts hat sie sich aber trotz aller berechtigten Befürchtungen gut entwickelt.

Die Eltern von Melina, die darum bitten ihren Wunsch nach Anonymität zu respektieren, sind jedenfalls überglücklich, dass ihrem Kind die Chance zu überleben gegeben wurde. Melina ist bereits das zweite extreme Frühchen, das am Klinikum Fulda gerettet werden konnte. 2010 kam Frieda zur Welt, die bei ihrer Geburt nur einen Tag älter als Melina war. Sie galt bisher als Europas jüngstes Frühchen.

Klinikum Fulda hat über Jahre eines der besten Perinatalzentren Deutschlands

"Das Perinatalzentrum Level 1 am Klinikum Fulda mit Prof. Dr. Reinald Repp als Chefarzt der Neonatologie (Versorgung der Frühgeborenen) zählt nach den Daten des IQTIG (Institut für Qualität und Transparenz im Gesundheitswesen) schon über viele Jahre hinweg zu den besten Perinatalzentren Deutschlands", erläutert Priv.-Doz. Dr. Thomas Menzel, Vorstandssprecher des Klinikums Fulda. Menzel weiter: "Bei der Überlebensrate ohne schwerwiegende Komplikationen belegt das Perinatalzentrum des Klinikums Fulda aktuell Platz 1 von den 211 Zentren dieser Art in Deutschland und bei der Überlebensrate (mit und ohne Komplikationen) Platz 2."

Repp und sein Team entscheiden sich für das Leben

Melina war am 5. März morgens gegen 7:30 Uhr zusammen mit ihrem Zwillingsbruder eingeliefert worden. Der Rettungsdienst brachte die beiden Frühchen mit Sauerstoffversorgung und künstlicher Wärmeversorgung aus dem Umland ins Klinikum. "Es ist ein Wunder, dass so früh geborene Kinder überhaupt einen solchen Transport überleben", sagt Repp. Während ihr Bruder schon in den ersten Stunden nach dem Eintreffen im Klinikum gestorben war, konnte Melina trotz aller Komplikationen überleben. Als Repp und sein Team sofort begannen, die Kinder zu versorgen, war ihnen noch gar nicht bewusst, dass sie so viel zu früh zur Welt gekommen waren. Das stellte sich erst später heraus. Frühchen, die vor der 24. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen, müssen nach den deutschen Leitlinien nicht lebenserhaltend behandelt werden. Repp und sein Team entschieden sich für das Leben.

"Melina wog deutlich weniger als 500 Gramm. Das ist wenig, aber auf einer Frühgeborenen-Intensivstation heutzutage nicht mehr außergewöhnlich. Viel kritischer für das Überleben ist die Unreife lebenswichtiger Organe aufgrund des extrem frühen Geburtstermins. Sie war genau 18 Wochen und 3 Tage zu früh zur Welt gekommen", sagt Repp.

Zu diesem Zeitpunkt der Schwangerschaft ist die Lunge noch nicht ausreichend entwickelt und die Kinder benötigen zusätzlichen Sauerstoff, der aber bei Frühchen die Augen schädigen kann. Es drohen in den ersten Tagen nach der Frühgeburt Hirnblutungen und der Tod durch Darmverschluss.

Frühchen brauchen Sauerstoff, aber der schadet den Augen

Bei Frühchen ist die Lunge noch nicht ausgereift. Die Lungenbläschen, die den Gasaustausch von Kohlendioxid gegen Sauerstoff ermöglichen, sind noch nicht ausgebildet."Sie sehen aus wie Säckchen und noch nicht wie Himbeeren. Es fehlt ihnen damit an Oberfläche für den Gasaustausch und die Lungendurchblutung ist erschwert", sagt Repp. Ferner sind die Zellen in diesem Alter noch nicht ausgebildet, die jenen Stoff (Surfactant) zur Verfügung stellen, der die Oberflächenspannung des Wassers in der Lunge löst. Die Lunge klebt zusammen wie feuchte Frischhaltefolie, wenn sie gefaltet wird. Surfactant wirkt wie Seife, die die Oberflächenspannung des Wassers löst, damit sich die nasse Folie entfalten lässt.

Melina wurde mit einer Hochfrequenzoszillation beatmet. "Das ist, wie wenn der Hund hechelt", sagt Repp. Die Luft werde nicht in die Lunge gepumpt und ihr wieder entzogen, um die Lunge des Frühchens nicht mechanisch zu überdehnen, sondern mit der Hochfrequenzoszillation werde die Luftsäule durchgerüttelt und damit der Austausch von Sauerstoff gegen Kohlendioxid ermöglicht. Das Verfahren sei "eine unserer Spezialitäten", sagt Repp. 

Zustand des Kindes stabilisiert sich

Nach fünf Tagen Beatmung, erinnert sich Repp, wurde die Beatmung des Frühchens "schwieriger, was nicht ungewöhnlich ist, da die Lunge durch die Belastung, die eine Beatmung darstellt, Entzündungsreaktionen entwickelt". Aber nach weiteren zwei Wochen sei der Sauerstoffbedarf in Melinas Atemluft gesunken und mit Hilfe der Kombination einer konventionellen Beatmung und der Hochfrequenzoszillation sei es gelungen, den Zustand des Kindes nach knapp vier Wochen zu stabilisieren.

Am 20. Mai, etwa elf Wochen nach der Geburt, wurde die invasive Beatmung beendet und durch eine nicht-invasive Atemhilfe ersetzt. Statt mit einem Tubus, der in die Lunge eingeführt wird (invasiv), wird der Patient mit einer Maske auf dem Gesicht oder einem Schlauch in der Nase beatmet.

Die Versorgung mit Sauerstoff ist für das Frühchen lebensnotwendig, geht aber mit großen Risiken für die Entwicklung der noch unreifen Augen einher. Extreme Frühgeborene leiden häufig an einer Retinopathie, einer Netzhauterkrankung, die bis zur Erblindung führen kann. Denn die lebensnotwendige Versorgung mit Sauerstoff kann in diesem Entwicklungsstadium des Kindes leicht zu einer Überversorgung jener Blutgefäße führen, die sich gerade erst im Auge entwickeln. Indem sie zu stark und unstrukturiert wachsen, zerstören sie das Auge. Melina erhielt ein Medikament und wurde augenärztlich behandelt.

"Wir haben alles getan, um die Vitalparameter im Toleranzbereich zu halten"

In den ersten Lebenstagen eines Frühchens, schildert Repp ein weiteres Risiko, können schwere Hirnblutungen auftreten und dann die gesamte lebenserhaltende Behandlung in Frage stellen. Normalerweise bilden sich bis zur 33. Schwangerschaftswoche noch sehr viele neue Blutgefäße im Gehirn. Bei einem Frühchen arbeiten die Regelkreise, die das Gehirn des Kindes vor Schädigungen durch Blutdruckschwankungen schützen, aber in den ersten Tagen nach Geburt noch nicht. "Wir haben also alles getan, um Blutdruck und Blutgaswerte stabil und alle Vitalparameter im mittleren Toleranzbereich zu halten", sagt Repp. Etwa fünf Tage nach der Geburt sei diese Gefahr überstanden, weil sich die Schutzmechanismen des Gehirns entwickelt haben.

Sehr häufig kommt bei extrem Frühgeborenen die Darmbewegung nicht in Gang. Wenn das Mekonium, der erste schwarze Stuhl, der im Volksmund auch Kindspech genannt wird, im schlimmsten Falle nicht ausgeschieden wird, kann dies einen Darmverschluss verursachen und zum Tod führen. Ferner drohen schwere Entzündungen der Darmwand, Löcher im Darm und Bauchfellentzündungen. Fast jedes Dritte Extremfrühgeborene, berichtet Repp, stirbt an Darmerkrankungen. Muttermilch bringt die Darmtätigkeit in Gang und senkt die Wahrscheinlichkeit von Darm-Komplikationen um den Faktor drei. Melina hat ab dem zweiten Lebenstag Muttermilch erhalten und war im Alter von drei Wochen damit voll ernährbar.

Nach der ersten Woche war die besonders kritische Phase bewältigt

Die Frage, wann ein solches Kind über den Berg sei, sei immer schwer zu beantworten, räumt Repp ein: "Nach der ersten Woche war jedoch die besonders kritische Phase geschafft, und nach drei bis vier Monaten hatten wir die Hoffnung, dass sie durchkommen wird. Im August hatte sich ihre Lage stabilisiert. Mit Hilfe der nicht-invasiven Atemunterstützung hat sich in diesem Zeitraum der Sauerstoffbedarf langsam reduzieren lassen auf jetzt phasenweise Raumluft. Der immer noch phasenweise benötigte zusätzliche Sauerstoffbedarf ist eine typische langfristige Folge der extremen Frühgeburt. Die Lunge wird durch die zum Überleben notwendige Belastung - durch chronische Entzündungsprozesse und die Störung der normalen Differenzierung - geschädigt. Glücklicherweise besteht bei Melina eine gute Lungendurchblutung. Damit sehen wir langfristig eine gute Prognose, da die Lunge noch bis zum sechsten Lebensjahr neue Lungenbläschen bilden kann, und wir hoffen, dass Melina in ein paar Monaten ganz ohne Atemunterstützung und ohne zusätzlichen Sauerstoff auskommen wird.  

Repp weiß um die Relativität des Erfolgs

Repp sagt, er wisse um die "Relativität" der Erfolge des Perinatalzentrums Level 1 am Klinikum Fulda. Es sei einerseits schon ein Wunder gewesen, dass die Frühchen lebend mit dem Rettungswagen ankamen vor gut einem Jahr. Melina sei in den letzten 10 Jahren schon das zweite weltweit extremste Frühgeborene, das im Perinatalzentrum in Fulda behandelt wurde, sagt Repp: "Wir wussten Anfangs nicht genau, um wie viele Wochen und Tage Melina zu früh zur Welt gekommen war. Da ihre Eltern sie nach der Hausgeburt mit dem Rettungsdienst in die Neonatologie nach Fulda verlegen ließen und sich dafür aussprachen, dass wir alles unternehmen, haben wir Melina und ihren Bruder beatmet. Aufgrund der Behandlungserfolge der letzten 10 Jahre konnten wir mit Zuversicht in unserem außerordentlich engagierten Team alle lebenserhaltenden Maßnahmen durchführen. Wir versuchen die medizinischen Möglichkeiten mit dem Mut, sich zum Leben zu bekennen, zu verbinden." (ci/pm)+++

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