"Eine Handvoll Leben"
Frühchen Melina hat sich ins Leben gekämpft - Prof. Dr. Repp berichtet
Alle Fotos: Martin Engel
05.06.2020 / FULDA -
"Melina wog deutlich weniger als 500 Gramm. Das ist wenig, aber auf einer Frühgeborenen-Intensivstation heutzutage nicht mehr außergewöhnlich. Viel kritischer für das Überleben ist die Unreife lebenswichtiger Organe aufgrund des extrem frühen Geburtstermins. Sie war genau 18 Wochen und 3 Tage zu früh zur Welt gekommen", sagt Repp.
Frühchen brauchen Sauerstoff, aber der schadet den Augen
Bei Frühchen ist die Lunge noch nicht ausgereift. Die Lungenbläschen, die den Gasaustausch von Kohlendioxid gegen Sauerstoff ermöglichen, sind noch nicht ausgebildet."Sie sehen aus wie Säckchen und noch nicht wie Himbeeren. Es fehlt ihnen damit an Oberfläche für den Gasaustausch und die Lungendurchblutung ist erschwert", sagt Repp. Ferner sind die Zellen in diesem Alter noch nicht ausgebildet, die jenen Stoff (Surfactant) zur Verfügung stellen, der die Oberflächenspannung des Wassers in der Lunge löst. Die Lunge klebt zusammen wie feuchte Frischhaltefolie, wenn sie gefaltet wird. Surfactant wirkt wie Seife, die die Oberflächenspannung des Wassers löst, damit sich die nasse Folie entfalten lässt.
Zustand des Kindes stabilisiert sich
Am 20. Mai, etwa elf Wochen nach der Geburt, wurde die invasive Beatmung beendet und durch eine nicht-invasive Atemhilfe ersetzt. Statt mit einem Tubus, der in die Lunge eingeführt wird (invasiv), wird der Patient mit einer Maske auf dem Gesicht oder einem Schlauch in der Nase beatmet.
"Wir haben alles getan, um die Vitalparameter im Toleranzbereich zu halten"
In den ersten Lebenstagen eines Frühchens, schildert Repp ein weiteres Risiko, können schwere Hirnblutungen auftreten und dann die gesamte lebenserhaltende Behandlung in Frage stellen. Normalerweise bilden sich bis zur 33. Schwangerschaftswoche noch sehr viele neue Blutgefäße im Gehirn. Bei einem Frühchen arbeiten die Regelkreise, die das Gehirn des Kindes vor Schädigungen durch Blutdruckschwankungen schützen, aber in den ersten Tagen nach Geburt noch nicht. "Wir haben also alles getan, um Blutdruck und Blutgaswerte stabil und alle Vitalparameter im mittleren Toleranzbereich zu halten", sagt Repp. Etwa fünf Tage nach der Geburt sei diese Gefahr überstanden, weil sich die Schutzmechanismen des Gehirns entwickelt haben.
Sehr häufig kommt bei extrem Frühgeborenen die Darmbewegung nicht in Gang. Wenn das Mekonium, der erste schwarze Stuhl, der im Volksmund auch Kindspech genannt wird, im schlimmsten Falle nicht ausgeschieden wird, kann dies einen Darmverschluss verursachen und zum Tod führen. Ferner drohen schwere Entzündungen der Darmwand, Löcher im Darm und Bauchfellentzündungen. Fast jedes Dritte Extremfrühgeborene, berichtet Repp, stirbt an Darmerkrankungen. Muttermilch bringt die Darmtätigkeit in Gang und senkt die Wahrscheinlichkeit von Darm-Komplikationen um den Faktor drei. Melina hat ab dem zweiten Lebenstag Muttermilch erhalten und war im Alter von drei Wochen damit voll ernährbar.
Nach der ersten Woche war die besonders kritische Phase bewältigt
Die Frage, wann ein solches Kind über den Berg sei, sei immer schwer zu beantworten, räumt Repp ein: "Nach der ersten Woche war jedoch die besonders kritische Phase geschafft, und nach drei bis vier Monaten hatten wir die Hoffnung, dass sie durchkommen wird. Im August hatte sich ihre Lage stabilisiert. Mit Hilfe der nicht-invasiven Atemunterstützung hat sich in diesem Zeitraum der Sauerstoffbedarf langsam reduzieren lassen auf jetzt phasenweise Raumluft. Der immer noch phasenweise benötigte zusätzliche Sauerstoffbedarf ist eine typische langfristige Folge der extremen Frühgeburt. Die Lunge wird durch die zum Überleben notwendige Belastung - durch chronische Entzündungsprozesse und die Störung der normalen Differenzierung - geschädigt. Glücklicherweise besteht bei Melina eine gute Lungendurchblutung. Damit sehen wir langfristig eine gute Prognose, da die Lunge noch bis zum sechsten Lebensjahr neue Lungenbläschen bilden kann, und wir hoffen, dass Melina in ein paar Monaten ganz ohne Atemunterstützung und ohne zusätzlichen Sauerstoff auskommen wird.
Repp weiß um die Relativität des Erfolgs
Repp sagt, er wisse um die "Relativität" der Erfolge des Perinatalzentrums Level 1 am Klinikum Fulda. Es sei einerseits schon ein Wunder gewesen, dass die Frühchen lebend mit dem Rettungswagen ankamen vor gut einem Jahr. Melina sei in den letzten 10 Jahren schon das zweite weltweit extremste Frühgeborene, das im Perinatalzentrum in Fulda behandelt wurde, sagt Repp: "Wir wussten Anfangs nicht genau, um wie viele Wochen und Tage Melina zu früh zur Welt gekommen war. Da ihre Eltern sie nach der Hausgeburt mit dem Rettungsdienst in die Neonatologie nach Fulda verlegen ließen und sich dafür aussprachen, dass wir alles unternehmen, haben wir Melina und ihren Bruder beatmet. Aufgrund der Behandlungserfolge der letzten 10 Jahre konnten wir mit Zuversicht in unserem außerordentlich engagierten Team alle lebenserhaltenden Maßnahmen durchführen. Wir versuchen die medizinischen Möglichkeiten mit dem Mut, sich zum Leben zu bekennen, zu verbinden." (ci/pm)+++