Fluchten aus der Diktatur
Zeitzeugen berichten vor Schülern der Geschwister-Scholl-Schule über die DDR
Foto: Geschwister-Scholl-Schule Alsfeld
10.03.2020 / ALSFELD -
Totenstille. Spannung im ganzen Raum. Nur eine zierliche Frau bewegt sich, redet leise und fesselt die Zuhörer mit ihren eindrucksvollen Erzählungen. Kaum zu glauben, dass sie vor knapp hundert Schülern spricht, sie so in ihren Bann zieht, dass alle konzentriert zuhören. Das Thema ist ein ernstes - der Umgang mit Menschen in der DDR nach einem missglückten Fluchtversuch aus der kommunistischen Diktatur. Begegnungen wie diese sind Bestandteil dreier Projekttage in der Geschwister-Scholl-Schule, die bei den Heranwachsenden ein Bewusstsein dafür schaffen sollen, wie wertvoll es ist, in einer Demokratie leben zu dürfen.
Beate Gallus ist mit ihrer Mutter Jutta Fleck, die als „Frau vom Checkpoint Charlie“ international bekannt wurde, auf Initiative der beiden Deutsch- und PoWi-Lehrerinnen Anette Bischoff und Birgit Kasten zu Gast. Sie berichtet als Zeitzeugin den Schülern der zehnten Klassen von ihren Erlebnissen, als sie 1982 über Rumänien nach West-Deutschland flüchten wollten, verhaftet und später getrennt wurden. Eine Odyssee durch Heime und Gefängnisse begann, ein Kampf ums Überleben, nicht nur physisch, sondern auch mental. Das merkten die Schüler sehr schnell und fragten: Wie haben Sie das geschafft? Wie überlebt? Und: Gab es Selbstmorde? Erschreckend die Antwort: Ja, immer wieder.
Auch von der emotionalen Kälte in Kinderheimen und Jugendwerkhöfen, eingeredeten Schuldgefühlen, traumatisierenden Erlebnissen, menschenunwürdigen Behandlungen und von dem Kampf für eine gemeinsame Zukunft berichten Mutter und Tochter anschaulich an diesem Vormittag, der der letzte von drei ereignisreichen Tagen in der weiterführenden Schule sein sollte.
Die in Potsdam lebende Autorin Grit Poppe hatte bereits als Kind durch die Überwachung des Vaters und Inhaftierung der Stiefmutter erlebt, welche Folgen der Einsatz für Demokratie und Menschenrechte in der kommunistischen Diktatur haben konnte. In ihrem Jugendroman „Weggesperrt“ erzählt sie eindringlich vom Leben im geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, in dem sogenannte schwererziehbare Jugendliche durch Drill, Kollektivstrafen und Strafsport in ihrer Persönlichkeit gebrochen wurden.
Ausgangspunkt der Projekttage war jedoch die Frage nach Herkunft und Bedeutung des Teils der „Berliner Mauer“ vor der Alsfelder Stadtschule, an dem doch die meisten von uns achtlos vorbeigehen. Die Suche nach Antworten führte den Wahlpflichtkurs der 10. Jahrgangsstufe zu Bürgermeister Stephan Paule, der bereitwillig Auskunft gab, und zum Zeitungsarchiv im Alsfelder Beinhaus. Am Ende der in einem anschaulichen Video festgehaltenen Spurensuche zeigt sich für die engagierten Schüler, dass so wie in Alsfeld weltweit Mauerreste an die friedliche Überwindung der Diktatur erinnern sollen.
Bereits seit November 2019, zum dreißigsten Jahrestag des Mauerfalls, ist in den Räumlichkeiten der Geschwister- Scholl-Schule die Ausstellung „Von der friedlichen Revolution zur deutschen Einheit“ zu sehen, herausgegeben unter anderem von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Darüberhinaus haben der Friedrich-Bödecker-Kreis in Hessen und das koordinierende Zeitzeugenbüro der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen die Projekttage an der Geschwister-Scholl-Schule gefördert und unterstützt.
Abschließend waren sich alle Beteiligten einig: Wenn der Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie deutlich wird, ist es leichter zu erkennen, wie wertvoll es ist, in einer Demokratie zu leben. Die Geschwister-Scholl-Schule hofft, dass sich jeder einzelne dafür stark macht, dass Demokratie und Menschenrechte geschützt werden. (pm) +++