"Ich bin in London erwachsen geworden"

Ab heute Nacht sind die Briten raus: "Safe travels, my dear friend"

In 2015 gab mir Martin Angelstein die Chance, mich als Fotografin für O|N zu verwirklichen
Fotos: Carina Jirsch

01.02.2020 / FULDA - Einigen Menschen geht das ewige Brexit-Geheule auf die Nerven und anderen wiederum scheint es ziemlich egal zu sein, was außerhalb ihrer eigenen Grenzen passiert. An mir geht dieser EU-Ausstieg leider nicht spurlos vorbei, da ich in Großbritannien erwachsen geworden bin.



14 Jahre lang war London meine Wahlheimat, bis ich Anfang 2015 aus privaten Gründen wieder zurück nach Deutschland kam. Daher trifft es mich sehr, dass mit dem heutigen Tag mein geliebtes Großbritannien nicht mehr Teil der EU sein wird. Es macht mich traurig und zugleich wütend, da ich einfach nicht verstehen kann, wie man gegen die offenen Grenzen Europas sein kann. Populismus scheint Individualismus verdrängt zu haben. Ich persönlich habe es geliebt, von dieser Freiheit beruflich und privat zu profitieren. Als ich Anfang 2001 meine Füße auf britischen Boden gesetzt habe, um als Au-pair zu arbeiten, hatte ich eigentlich nicht vor, meine berufliche Karriere dort zu starten, aber als sich die Gelegenheit bot, hab ich sie bei den Hörnern gepackt.

Durch meine Liebe zu Fotografie und Musik hatte ich das Glück, Menschen zu treffen, die mir die Chance gaben, meine beruflichen Träume zu erfüllen. Ich war ein einfaches Mädchen aus Sachsen-Anhalt ohne Vitamin B und hatte nur eine Vision davon, wie mein Leben aussehen sollte, aber hätte nie daran geglaubt, dass sie wahr werden könnte. Es gab damals keinerlei bürokratischen Hürden, die mich aufhielten oder mir den Anfang schwer machten. Ich suchte mir ein WG-Zimmer, arbeitete in verschiedenen Bars und nutzte jede Gelegenheit, um Konzerte zu fotografieren. Jedoch blieb die Musikfotografie nach einer Weile im Hintergrund, da ich die Chance bekam, im Musikgeschäft Fuß zu fassen.

Bis zu meiner Rückkehr nach Deutschland war ich in Großbritannien als Konzert- und Tourneeveranstalter für verschiedene Musikfirmen beschäftigt und in den letzten zwei Jahren Geschäftsführerin einer deutschen Veranstaltungsfirma, die für mich ein Büro in London aufgemacht hatte. In all den Jahren habe ich tausende Konzerte veranstaltet und auch besucht.

Mit dem Brexit wird es nach der Übergangsphase ab 1. Januar 2021 für viele EU-Hinterbliebene nicht mehr möglich sein, so unkompliziert in Großbritannien zu arbeiten und zu leben. Ab dann braucht man nämlich eine Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung. Das heißt, dass man wahrscheinlich nur noch mit speziellen Qualifikationen für Unternehmen arbeiten darf, die auch bereit sind, teures Geld für Visa auszugeben. Derzeit müssen Nicht-EU-Bürger einen jährlichen Mindestverdienst von 44.000 Euro (monatlich 3.700 brutto) nachweisen, um in GB arbeiten zu dürfen. Wenn das auch künftig für alle EU-Bürger in Großbritannien gelten soll, dann wäre ich auf der Abschussliste gewesen. Dabei war ich finanziell zufrieden, auch wenn ich weit weg davon war, mir eine Wohnung kaufen zu können.

Boris Johnson & Co machen immer wieder deutlich, dass sie hochklassige Verdiener fördern wollen, um den Mittelstand rapide wachsen zu lassen. Was dagegen mit den Geringverdienern passiert, scheint keinen Stellenwert zu haben. Wenn man die Wahlergebnisse vom Dezember sieht, ist eindeutig, dass die Mehrheit der Londoner Labour gewählt hat. Für mich persönlich ist das keine Überraschung. In der Hauptstadt sind die meisten Menschen durch ihre Weltoffenheit und Toleranz natürliche Brexit-Gegner. Nicht eine einzige Person aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis ist Brexiteer.

London ist eine Sehnsuchtsstadt für viele junge kreative Menschen aus ganz Europa. Die meisten von ihnen arbeiten in Pubs für einen Hungerlohn von 10 Euro die Stunde, wo ein Pint Bier etwa 6 Euro kostet, man 15 Euro für eine U-Bahn-Tageskarte zahlt und für ein WG-Zimmerchen monatlich 1.000 Euro hinlegt. Ich frage mich, ob sich die Briten für diesen Lohn bald selber hinter die Theke stellen werden.

Meine ehemaligen Kollegen im music business machen sich Sorgen um die Zukunft. Sie befürchten, dass es sich viele unabhängige internationale Künstler nicht mehr leisten können, in Großbritannien zu touren. Derzeit brauchen sie noch nicht hunderte von Pfund für eine Arbeitserlaubnis zu bezahlen, können ihr Merchandise zollfrei einführen und dürfen mit ihren Instrumenten unbeschränkt einfliegen. Doch das wird sich bald ändern. Musiker verdienen bei einem Auftritt in London einen Bruchteil von dem, was sie beispielsweise in Deutschland an Gage bekommen. Bis jetzt war London neben New York die wichtigste Stadt für Künstler aller Art, aber da in den verbleibenden EU-Ländern weiterhin barrierefrei gereist werden darf, wird sich der Schwerpunkt, auch für Musikfirmen, voraussichtlich vermehrt nach Berlin verlagern.

Mein engster Freundeskreis besteht hauptsächlich aus Franzosen, Belgiern und Italienern. Wir haben uns alle 2003 gefunden und sind zusammen in London erwachsen geworden. Die meisten haben mittlerweise eine tolle Karriere, Kinder und Eigentumswohnungen. Jedoch gibt es auch einige, die ihr Leben in Großbritanien schweren Herzens aufgegeben haben, um weiterhin frei bleiben zu können. Diese Menschen waren mit ihrer Kreativität eine wundervolle Bereicherung für das Land, aber bevor sie geschubst werden, war es leichter für sie zu springen.

Ich denke sehr gerne an meine aufregenden Jahre im London zurück und bin dankbar, dass ich noch die Möglichkeit hatte, ohne bürokratische Hindernisse im Musikgeschäft Fuß zu fassen. Es war mir eine absolute Ehre! Nur schade, dass andere junge Träumer diese Chance nicht bekommen werden, nur weil manche Leute ihre eigene Nationalität über die der anderen stellen.

Goodbye, dear London Town....
Carina Jirsch

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