"Wie vor den Kopf geschlagen"

Jüdische Opferfamilien fühlen sich von Bürgermeister Kübel brüskiert

"Die Geschichte soll sich nie wiederholen!"
Foto: O|N

21.09.2019 / BAD SALZSCHLIRF - Es war für alle Beteiligten ein Herzensanliegen und sollte ein versöhnliches und friedvolles Zeichen für die Familien der im Holocaust ermordeten Juden aus Bad Salzschlirf werden: 15 Nachkommen dieser Opfer haben sich dafür von weither auf den Weg ins kleinste hessische Bad gemacht - aus Schweden, aus Israel und aus den USA, um am Sonntag ihrer aus Bad Salzschlirf vertriebenen und umgebrachten Vorfahren zu gedenken. Ganz wichtig war das auch für die in der Kurgemeinde geborene Historikerin Anja Listmann, die seit Jahrzehnten über das Schicksal der Juden aus ihrer Heimatgemeinde forscht, viele von deren Nachkommen in aller Welt ausfindig gemacht hat und den Kontakt zu ihnen pflegt. Doch aus dem guten Gedanken und der mit viel Herzblut verfolgten Initiative wird nichts werden. Die Nachkommen fühlen sich vom Verhalten des Salzschlirfer Bürgermeisters Matthias Kübel so vor den Kopf gestoßen, dass sie ihre Teilnahme an der Veranstaltung verweigern. Und ohne sie wird das Gedenken der Gemeinde am Sonntag zu einer einzigen Farce.



Eine von ihnen ist die 75-jährige Ellie Roden, die sich dafür auf die weite Flugreise aus Wilmington (USA) gemacht hat. Wenn sie in ihrem Fuldaer Hotelzimmer über den für sie unglaublichen Affront durch den Bürgermeister und das Zerwürfnis spricht, kommen ihr die Tränen: "Er hat sich offenbar in ein Loch manövriert, aus dem er jetzt nicht mehr herausfindet", urteilt sie über dessen Verhalten. Zunächst war die Vorbereitungsgruppe für das geplante Gedenken und die Errichtung einer Erinnerungsstätte konstruktiv und zielführend verlaufen. Doch plötzlich kam es zum Streit darüber, wer bei dieser Gelegenheit sprechen solle. "Es war ausgemacht, dass vier der Nachkommen jeweils etwas über ihre Familien erzählen sollten, derer wir hier gedenken", beschreibt Anja Listmann. Doch der Bürgermeister widersprach dieser Planung, habe die Zahl auf nur ein oder zwei Angehörige beschränken und deren Redezeit ebenfalls auf ein Minimum reduzieren wollen.

Keine Täternamen nennen?

Auch sollten keinesfalls die Namen der damaligen Täter aus Bad Salzschlirf genannt werden, habe Kübel in der Vorbereitungsgruppe verlangt. "Davon war auch niemals die Rede, von den Angehörigen wäre niemand auf eine solche Idee gekommen", sagt Anja Listmann. Ellie Roden bestätigt das: "Wir sind alle hierhergekommen, um uns an unsere toten Verwandten zu erinnern und die Hand zur Versöhnung auszustrecken", sagt sie tief bekümmert. Jetzt fühlten sie und die anderen sich zu Unrecht attackiert und von der Gemeinde nicht länger willkommen.

Bürgermeister Kübel bestreitet vehement, er habe die Angehörigen in dem, was sie bei der Gedenkveranstaltung sagen wollten, in irgendeiner Weise einschränken oder zensieren wollen. "Ich habe nur darauf hingewiesen, dass es am Samstag schon einen Abend der Erinnerung mit allen Beteiligten geben solle". Außerdem sollten bei diesem Anlass die Opfer und nicht die Täter in den Blick genommen werden.

Ein weiterer Punkt heftiger Kritik war die Tatsache, dass die Opferangehörigen 19 Plaketten mit den Namen der Ermordeten anbringen lassen wollten, der Bürgermeister stattdessen aber zwei Tafeln mit 58 Namen aller ehemaligen Bad Salzschlirfer Juden installieren lassen wollte. Das sehen die Nachkommen als Geschichtsverfälschung an und fühlen sich dadurch brüskiert.

Im Ergebnis ist aus einer versöhnlichen Idee für ein würdigendes Gedenken eine Ohrfeige für die Opferangehörigen geworden. Bürgermeister Kübel fühlt sich nun missverstanden und hofft auf Gesprächsbereitschaft bei den Betroffenen. Doch das Tischtuch scheint endgültig zerschnitten. Und abgesehen davon, dass alle 15 ihr selbst bezahltes Flugticket nach Hause längst gebucht haben, besteht bei ihnen auch kein weiterer Gesprächsbedarf. Sie werden sich gemeinsam mit Anja Listmann am Sonntag um 14 Uhr auf dem jüdischen Friedhof in der Heidelsteinstraße treffen, um dort die 19 Tafeln anzubringen und ein gemeinsames Gedenken abzuhalten. Eine jammervoll missglückte Geschichte, die zu großer Verbitterung geführt hat. (Carla Ihle-Becker)+++

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