1989/2019: 30 Jahre Mauerfall

Die schier unglaubliche Abenteuerreise zweier DDR-Jungen nach Italien


Fotos: Carina Jirsch, Privat (5) / Repro: Janina Hohmann

03.02.2019 / KÜNZELL - Die große Geschichte über die Teilung Deutschlands ist - bald 30 Jahre nach dem Mauerfall am 9. November 1989 - in ihren Grundzügen geschrieben. Um dieses Bild abzurunden, gilt es, auch die kleinen Geschichtchen von Zeitzeugen zu erzählen, wie die von Helmut Räbiger (Siehe Zusatzkasten):

Anpfiff. Das Fußballspiel der Dorfmannschaft ist an diesem Sonntag im Juni 1959 wie immer hart umkämpft, doch der 22-jährige Helmut Räbiger ist mit dem Kopf ganz woanders. Niemand im Team - außer der zwei Jahre ältere Bruder Siegfried - kennt sein Geheimnis. Noch in der Nacht werden die Beiden mit dem Fahrrad eine abenteuerliche Reise nach Italien antreten und sich damit gewaltigen Ärger mit der DDR einhandeln.

Wir treffen den heute 82-Jährigen in seinem Haus in Künzell bei Fulda. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein mit Kunstschrift schön gestaltetes Fotoalbum, das die fünfwöchige Reise damals minutiös dokumentiert. „Schon vor 1959 haben mein Bruder und ich größere Fahrradtouren von unserem Dorf Oberrohn bei Bad Salzungen (Thüringen) unternommen“, erzählt Räbiger, „erst in die Bundesrepublik, dann in die Schweiz und schließlich bis nach Nizza.“ Weil damals aber immer mehr junge Leute der DDR den Rücken kehrten, schob das Regime dem Freiheitsdrang einen Riegel vor: Ab 1958 - also schon drei Jahre vor dem Mauerbau - wurden keine Interzonenpässe mehr ausgestellt. Der Westen war nun tabu. Was also tun?

„Ein halbes Jahr haben wir uns einen Plan zurechtgelegt, wie wir unsere Reise am besten vertuschen können“, erinnert sich Räbiger, „das fing damit an, dass wir Zugfahrkarten nach Bad Freienwalde in Brandenburg gelöst haben, dann aber schon in Ost-Berlin ausgestiegen sind.“ Was folgte, klingt wie aus einem Spionagefilm über den Kalten Krieg. „Wir hatten so viel Zeugs dabei: die Fahrräder mit Ersatzteilen, ein Zelt, Kocher, die Fotoausrüstung, Decken … Das musste ja erstmal unauffällig in den Westen der Stadt geschmuggelt werden.“ Also pendelten die beiden Brüder gleich mehrfach von Ost nach West und zurück, mieden dabei tunlichst das bewachte Brandenburger Tor, sondern fuhren mit der Straßenbahn oder nutzten kleine Gassen, wo garantiert kein Vopo zu vermuten war.

Am Flughafen Tempelhof wäre die Reise beinahe zu Ende gewesen, wenn den beiden jungen Männern nicht eine mitleidige Angestellte trotz voller Maschinen doch noch irgendwie zwei Plätze für den Flug nach Hannover organisiert hätte. Und einen Rat gab sie den Räbigers mit auf die Reise: „Bucht gleich den Rückflug mit, dann wird es billiger.“ Exakt fünf Wochen später mussten sie also zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt wieder zurück in Hannover sein. Bei einer Fahrradtour mit einer Gesamtlänge von über 3.200 Kilometern und allen Unwägbarkeiten einer solchen Reise ein waghalsiges Unternehmen, das in der Rückschau an Jule Vernes „In achtzig Tagen um die Welt“ erinnert.

Der Beamte im Passamt von Hannover wollte es kaum glauben, dass die beiden Brüder nicht aus der DDR flüchten, sondern wieder nach Hause zur Mutter zurückkehren wollten, und setzte alle Hebel in Bewegung, um ihnen zwei druckfrische bundesdeutsche Reisepässe auszustellen. „Eure DDR-Pässe verwahre ich solange in meinem Tresor. Und in fünf Wochen werde ich wieder hier im Büro sein. Das will ich sehen, wenn ihr zurückkommt.“

Die Fahrradtour, die über Österreich bis nach Triest im Nordosten Italiens führte, muss super gewesen sein; blättert man durchs Fotoalbum, packt einen selbst die Reiselust. „Wir hatten vorne am Rad einen Wimpel mit der Wartburg drauf“, erzählt Helmut Räbiger, „dadurch sind wir öfter mit westdeutschen Touristen ins Gespräch gekommen, die uns dann auch mal zu einer Pasta eingeladen haben.“ Ansonsten bestand der Speiseplan vornehmlich aus Milch und Brot. „Als wir nach fünf Wochen zurückkamen, sahen wir aus wie die Strolche.“

Als Siegfried und Helmut Räbiger auf der Rückreise im Zug von Ost-Berlin in die DDR von der Polizei gefilzt wurden und man bei ihnen Mitbringsel für Daheim aus West-Berlin fand, wurden sie schließlich hops genommen, denn Geldwechsel war streng verboten. "Wenn die gewusst hätten, dass wir für unsere Reise 1.500 Ost- in Westmark getauscht hatten (ein ganzes Jahr war dafür gespart worden), hätten die uns nach Sibirien geschickt." Also bestanden die beiden Brüder auf ihrer Version, Urlaub im brandenburgischen Bad Freienwalde gemacht zu haben - der Ort stand ja auch auf ihren Zugfahrkarten. Auf dem Rückweg habe man von Ost-Berlin aus kurz rüber in den Westteil der Stadt gemacht und "ein bisschen Geld" getauscht, um ein paar Kleinigkeiten für die Lieben zu Hause zu kaufen. An und für sich eine Lapalie, aber es reichte bereits für eine vorübergehende Festnahme.

Die Demütigungen, die sie einen Tag lang in einem Stasi-Gefängnis in Leipzig erfahren mussten, sollen hier nicht beschrieben werden. Wenn Helmut Räbiger heute - sechzig Jahre danach - darüber spricht, stockt ihm noch immer der Atem. Allein die Beteuerung, sie fühlten sich im Arbeiter- und Bauernstaat wohl - was natürlich gelogen war -, bewahrte die Brüder vor Schlimmerem. Nach sieben Monaten wurde das Strafverfahren gegen sie eingestellt. 

Repressalien auch am Arbeitsplatz, dem Eisenacher Automobilwerk, wo der Wartburg hergestellt wurde und Helmut Räbiger als Modellbauer tätig war. „Weil ich eigentlich nur zwei Wochen Urlaub gehabt hatte, aber fünf Wochen weg war, haben sie mich in die Lackiererei strafversetzt. Acht Stunden musste ich jeden Tag schleifen, bis ich offene Hände hatte, und die Pausen durcharbeiten.“

Nach dem Mauerfall, als in Eisenach alles den Bach runter ging, hatten Helmut Räbiger und seine Frau Gudrun nochmal die Chance auf einen beruflichen Neuanfang, sie zogen nach Osthessen und arbeiteten bis zum Rentenalter beim Automobilentwickler „Edag“ in Fulda. "Man kann sich gar nicht vorstellen, was das für ein Apparat war", sagt Helmut Räbiger heute über die DDR: „Dieser 9. November 1989 war der schönste Tag in meinem Leben.“ (Matthias Witzel) +++



X