Zum 80. Jahrestag der Novemberpogrome
Verzweiflung und innere Zerrissenheit - Nachkommen Fuldaer Juden berichten
Foto: Stadt Fulda
08.11.2018 / FULDA -
Die Generation der unmittelbaren Zeitzeugen der NS-Zeit und der Judenverfolgung in Deutschland ist inzwischen hochbetagt, und nur noch wenige Menschen können von Ereignissen wie der Pogromnacht 1938 aus erster Hand berichten. Umso wichtiger wird nun die Generation der Kinder und Enkel, um das Geschehen als solches, aber auch die individuellen Schicksale und Familiengeschichten nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.
Vor diesem Hintergrund und aus Anlass der Gedenkwoche zum 80. Jahrestag der Novemberpogrome 1938 hatte der Fuldaer Geschichtsverein in Kooperation mit dem Kulturamt der Stadt Fulda am Dienstagabend zu einem Podiumsgespräch in das vhs-Kanzlerpalais eingeladen. Auf dem Podium saßen Nachkommen ehemaliger Fuldaer Juden, die derzeit zu Gast in Fulda und auf Spurensuche ihrer Eltern und Großeltern sind.
Kulturamtsleiter Dr. Thomas Heiler begrüßte das zahlreich erschienene Publikum und ganz besonders herzlich die jüdischen Gäste, die mit ihren Familien aus den USA, aus Israel und aus Brasilien angereist sind. Sein Dank galt Anja Listmann, die zum Teil schon vor vielen Jahren Kontakte zu den Familien ehemaliger Fuldaer Juden geknüpft hat und diese intensiv pflegt. „Frau Listmann hat ein lebendiges Netzwerk geknüpft, welches das Erbe der Fuldaer Juden wachhält“, betonte Heiler.
Die Erinnerungen an Fulda in den jeweiligen Familien sind weitgehend positiv – zumindest für die Zeit vor 1933. Das wurde in der ersten Fragerunde deutlich, in der die Gäste über die jeweiligen Familienerinnerungen berichten sollten. Ofra Givon beispielsweise war an diesem Tag sehr bewegt, als sie die Fuldaer Marienschule besichtigen konnte, in der ihre Mutter Bertha Flörsheim glückliche Schuljahre verbracht hat. Aber auch Negatives ist überliefert, etwa die Schikanen der Behörden bei der Beantragung der Ausweisdokumente für die Übersiedlung nach Palästina. Ethan Bensinger erzählte sehr plastisch von seinem Großvater Willi, der gerne mit seinen christlichen Freunden im Café Thiele Skat spielte und zunächst keinerlei Veranlassung sah, seine Heimat Fulda zu verlassen.
In der Diskussion mit dem Publikum wurde auch die Frage erörtert, warum sich nicht auch andere Staaten bereit erklärten, Kindertransporte aufzunehmen, wie dieses Signal von Hitlerdeutschland möglicherweise interpretiert wurde. Zum ersten Mal in Fulda ist Reinaldo Tockus. „Fulda war für uns als Kinder nur ein Name, jetzt habe ich die schöne und von ihrer her Geschichte so interessante endlich kennenlernen dürfen“, sagte er. Seinen Vorfahren gehörte das bekannte Kaufhaus Baer in der Fuldaer Unterstadt. Sein Vater schaffte es, nach einer Verhaftung und einer Zeit in sogenannter Schutzhaft in Buchenwald über London nach Brasilien auszureisen. Und auch das gab es: Ein Großvater mütterlicherseits, erzählte Reinaldo Tockus, hatte in Berlin einen Freund aus Schülertagen, der dann bei der SA war und ihn kurz vor der Pogromnacht warnte und dringend riet, mit allem Hab und Gut so rasch wie möglich ins Ausland zu gehen. Dieser Hinweis rettete dem Großvater wohl das Leben. (pm) +++