Aktueller und beklemmender denn je

Salem ist überall: Wedels "Hexenjagd" setzt erneut Maßstäbe

Die Hexenjagd ist eröffnet: Dieter Wedels brandaktuelle Inszenierung des Dramas von Arthur Miller feiert Wiederaufnahme bei den Bad Hersfelder Festspielen.
Fotos: Erich Gutberlet

23.07.2017 / BAD HERSFELD - Salem ist überall: Vorstellungen werden zur Realität. Lügenmärchen entwickeln eine bedrohliche Eigendynamik, gipfeln in einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Aktueller denn je kommt Dieter Wedels Inszenierung von Arthur Millers „Hexenjagd“ daher, die derzeit zum zweiten und letzten Mal in der Bad Hersfelder Stiftsruine dargeboten wird. Unter die Überschrift „Was Fake News anrichten“ hat der Festspielintendant den Politthriller gestellt. Unterschwellig lenkt das hochkarätig besetzte Ensemble den Blick auf gegenwärtige Phänomene. Was ist Sein? Was ist Schein? Die Wahrheit verschwimmt…



Salem ist überall, auch in der Bad Hersfelder Stiftsruine: Die Motive, aus denen die Protagonisten des aufwühlenden Dramas heraus handeln, sind so alt wie die Menschheit selbst: Neid. Eifersucht. Gier. Jeder klagt gegen jeden, um sich zu profilieren oder seine eigene Haut zu retten – ohne Rücksicht auf Verluste. Pubertäres Gebaren einer kleinen Gruppe wird für den eigenen Vorteil ausgeschlachtet, instrumentalisiert und missbraucht. Die Gerüchteküche brodelt. Die Scheinbeweise sind erdrückend.

Abigail Williams (stark: Corinna Pohlmann) beschuldigt Haushälterin Tituba (anrührend: Otlile Mabuse) und Elizabeth Proctor (großartig: Elisabeth Lanz). Thomas Putnam (wunderbar raffgierig: Rudolf Krause) bringt Rebecca Nurse (bestechend ehrlich: Brigitte Grothum) in den Kerker. Tituba wiederum bezichtigt Bettlerin Sarah Good (unglaublich präsent in den Filmsequenzen: Jasmin Tabatabai) der Hexerei. Eine unheilvolle Katastrophe bahnt sich an. Aberglaube und Angst entladen sich in grenzenlose Hysterie. Die Welt gerät aus den Fugen. Ehrenvolle Bürger (standhaft: Horst Janson als Giles Corey) werden gegeißelt, gefoltert und hingerichtet.

Sogar in die Beziehung eines Ehepaares schleicht sich der widerwärtige Geist der Zwietracht ein. „Such doch mal das Gute in mir, als mich in meinen eigenen vier Wänden zu richten“, klagt John Proctor (überragend: Christian Nickel) seine Frau an. Katzbuckelnde Speichellecker (herrlich servil: Tilo Keiner als Reverend Parris) drängen sich in den Vordergrund. „Abweichler knöpfen wir uns vor – gnadenlos“, sagt Thomas Putnam. Türkei, China, Nordkorea, Iran, Irak, Syrien, Pakistan, Eritrea sind plötzlich ganz nah.

„Sie werden brennen – gemeinsam werden wir brennen“, orakelt Reverend John Hale (charismatisch: Richy Müller), der am Ende zum Rächer der Gerechten wird. Die Gerichtsbarkeit versagt. Inquisitor Thomas Danforth (tadellos: André Hennicke) kennt keine Gnade. Auch Richter Samuel Sewall (bemerkenswert: Hans Diehl) kann ihn nicht aufhalten. Niemand kann ihn aufhalten. Es wird immer enger in der Stiftsruine. Mauern erdrücken. Es herrscht eine beklemmendes Klima. Die Schlinge zieht sich zu. Es gibt kein Entrinnen.

Leblose Körper baumeln am Galgen. Intuitiv greift Reverend John Hale zum Gewehr. Ein Schuss reißt das Publikum aus seiner Schockstarre. Der raffgierige, habsüchtige Widersacher fällt. Resigniert wendet sich Hale ab. Salem ist überall. Ein Moment der Stille. Dann: langanhaltender, tosender Applaus, teilweise stehende Ovationen. (Stefanie Harth) +++

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