Topaktuelles Frühlingskonzert

Künstlerisches Statement der „Winfridia“ zu Erdogans Türkei-Politik

Städtischer Konzertchore WINFRIDIA mit der Thüringen Philharmonie Gotha
Fotos: Martin Engel

06.03.2017 / FULDA - Carsten Rupp muss prophetische Fähigkeiten haben. Wie sonst wäre es möglich, dass der Leiter des Städtischen Konzertchores „Winfridia“ für die Aufführung des Oratoriums „Yunus Emre“ aus der Feder des türkischen Komponisten Ahmed Adnan Saygun schon vor langem ausgerechnet denjenigen Sonntag festlegte, an dem der türkische Präsident Erdogan die deutschen Wahlkampfabsagen der letzten Tage mit absurden Worten bewertete und damit das gestrige Konzert brisant und topaktuell werden ließ?



Mit ihrem diesjährigen Frühjahrskonzert wollte die „Winfridia“ in besonderer Weise „dem Wunsch nach einem gelebten Miteinander aller Menschen Ausdruck verleihen“, wie es im Programmheft hieß, und hatte sich dafür neben Beethovens „Egmont“-Ouvertüre, op. 84, vor allem den 4. Satz aus dessen Sinfonie Nr. 9 in d-Moll, op. 125, sowie besagtes „Yunus Emre“ vorgenommen. Während der Ausruf aus Friedrich Schillers „Ode an die Freude“ – „Alle Menschen werden Brüder“ – in der Vertonung Beethovens zum Inbegriff der Europahymne geworden ist, beschäftigt sich die Poesie von Sayguns Oratorium mit dem Glauben an Gott und der Liebe zu den Menschen.

„Wir wollen mit dem ungewöhnlichen Programm keine Politik machen, sondern in Zeiten, in denen Menschen das große Ganze aus den Augen verlieren und sich auf ihr eigenes Land, ihre eigene Macht oder ihren eigenen Vorgarten beschränken, ein Zeichen für Menschlichkeit setzen,“ sagte „Winfridia“-Vorsitzender Maximilian Traut vor Konzertbeginn in der vollbesetzten Orangerie und begrüßte unter anderem den Türkischen Generalkonsul in Frankfurt, Burak Kararti. Dieser ging in seinem in Englisch gehaltenen Grußwort mit keinem Wort auf die derzeitigen deutsch-türkischen Beziehungen ein, sondern verwies auf die völkerverbindende Wirkung von Musik und die Wichtigkeit interkultureller Projekte.

Deutlichere Worte fand die Sozialdemokratin Birgit Kömpel (MdB), die das Grußwort ihres verhinderten Kollegen Michael Roth, Staatssekretär für Europa im Auswärtigen Amt, vorlas. Sie würdigte zunächst die jahrhundertelangen guten Beziehungen Deutschlands mit der Türkei respektive dem früheren Osmanischen Reich. Derzeit erlebe die Türkei allerdings unruhige Zeiten unter anderem aufgrund des Putschversuchs vom letzten Sommer. „Dessen Aufbereitung ist erforderlich, doch dabei müssen Mindeststandards rechtstaatlicher Verfahren eingehalten werden. Das ist derzeit offensichtlich nicht so, wie der Fall des inhaftierten Korrespondenten Denis Yücel zeigt.“ Demokratie, Rechtstaatlichkeit und Medienfreiheit stünden in der Türkei schwer unter Druck, weshalb sich die deutsche Politik derzeit vor allem für die dortige Zivilbevölkerung einsetze.

Nach den Rednern hatten schließlich die Musiker ihren Auftritt. Einmal mehr bewiesen die etwa 80 Sängerinnen und Sänger der „Winfridia“, dass sie mit Recht ein musikalisches Aushängeschild der Stadt sind. Mit Disziplin und großem Können gingen sie ans Werk und wurden dabei von der Thüringen-Philharmonie Gotha begleitet, die international für ihre musikalische Qualität bekannt ist. Mit Christina Rümann (Sopran), Anna Haase (Mezzosopran), Kerem Kürkcüoglu (Tenor) und Hinrich Horn (Bassbariton) hatte man vier versierte Gesangssolisten gewinnen können, und die Darbietung des hervorragenden Gesamtensembles unter der Leitung von Dirigent Carsten Rupp bewies, warum der majestätische und prunkvolle 4. Satz von Beethovens 9. Sinfonie weltweit zu den populärsten Werken der klassischen Musik zählt.

Der zweite Teil des Abends stand ganz im Zeichen des Oratoriums „Yunus Emre“, das Ahmed Adnan Saygun (1907-1991), der als einer der bedeutendsten türkischen Komponisten des 20. Jahrhunderts gilt, 1946 uraufführte. In Deutschland ist das Werk freilich so gut wie unbekannt. Saygun hatte einmal erklärt, dass er bei dieser Komposition „an jene Liebe habe denken müssen, welche sich in Beethovens 9. Sinfonie wiederspiegele und welche für ihn der Weg zum Frieden“ sei. Das kompakt komponierte Werk ist deutlich der Spätromantik verpflichtet und bildet eine gelungene Mischung aus morgenländischer und abendländischer Musik. Im Mittelpunkt stehen Texte des anatolisch-türkischen Dichters und Mystikers Yunus Emre, der im 13./14. Jahrhunderts gelebt hat. Das Stück ist unterteilt in drei große Abschnitte, welche sich den Fragen nach dem Tod und dem Jenseits sowie den tiefgreifenden Themen der menschlichen Existenz widmen. Der Clou bei der Aufführung am Sonntag: Der Städtische Konzertchor sowie die Solisten sangen die Partitur im Original, mussten dafür also erst einmal Türkischunterricht nehmen.

SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz hatte in seinem Grußwort fürs Programmheft geschrieben: „Solche Initiativen wie die des Städtischen Konzertchors ,Winfridia Fulda‘ begrüße ich aus tiefem Herzen und wünsche für die Zukunft beglückende Auftritte, den Singenden und dem Publikum.“ Letzteres spendete am Sonntag minutenlangen herzlichen Applaus. (Matthias Witzel) +++

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