Blinde Wanderer erobern das Mittelgebirge
Wie sieht die Rhön aus, wenn man sie nicht sieht?
Fotos: Marcel Grösch/ Miriam Rommel
15.10.2016 / KREUZBERG - Wie liegen die zwei Seen des Guckaisees zueinander? Wie schaut das Fliegerdenkmal auf der Wasserkuppe aus? Oder wie lässt sich das Rote Moor "begreifen"? Begibt man sich auf eine Wanderung durch das Land der offenen Fernen, erfährt man schnell die Antworten auf alle diese Fragen. Man sieht die wunderschöne Landschaft, erkennt auf den ersten Blick das dunkle Wasser des Moores oder eben, dass auf der Spitze des Fliederdenkmals ein Adler thront. Aber kann man auch als Blinder diese Landschaft mit anderen Sinnen begreifen?
„Ja“, meint Rainer Brell, der selbst vor 27 Jahren erblindete. Der gelernte Koch und umgeschulte IT-Fachmann hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Rhön auch für Menschen mit Sehbehinderung erlebbar zu machen. Zeitgleich zur Woche des Sehens bot der 48-jährige Blinden die Möglichkeit, an einer einwöchigen Wandertour durch das Mittelgebirge teilzunehmen. 16 wanderbegeisterte Menschen, angereist aus ganz Deutschland, starteten jeden Tag in der Woche vom heilklimatischen Ort Obernhausen bei Gersfeld aus, um mit ihren sehenden Begleitern die Rhön mit "anderen Augen" zu genießen. Ein sehender Guide begleitete hierbei jeweils zwei blinde Wanderer und erzählte diesen, was er gerade sah. Andersherum schilderten die beiden Mitwanderer, wie sie die Gegend empfanden. „So profitieren beide Seiten voneinander“, ist Brehl sich sicher.
„Die Rhön ist auch ungesehen ein wunderbares Mittelgebirge.“ Eine präzise und exakte Beschreibung von „Gesehenem“ sei wichtig, um das Kopfkino der Teilnehmer zu aktivieren. Detaillierte 3D-Modelle von Sehenswürdigkeiten sprächen dabei den Tastsinn an. Hören, Fühlen und Riechen seien wichtige Sinne, mit denen Informationen sensibel aufgenommen werden könnten. OSHTESSEN|NEWS begleitete die Gruppe am Donnerstag ein Stück weit beim Aufstieg zum Kreuzberg hinauf. In Fahrgemeinschaften ging es von Obernhausen bis zum Bahnhof Gersfeld, von dort bis nach Oberweißenbrunn mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Von Oberweißenbrunn, vorbei am Ziegelberg, wurde der erste Rastplatz, die Gemündener Hütte angesteuert.
Hier wärmte man sich auf und plauderte über die vergangene Wegstrecke. „Man kann Landschaft auch ohne Sehkraft wahrnehmen“, so eine Teilnehmerin. „Du spürst, ob du auf offenem Gelände oder im Wald läufst und der Wind weht dir auf den Bergen viel mehr um die Nase als im Tal. Man hört so viele Geräusche, Tiere, Äste die knacken … es ist einfach wunderbar.“ Gestärkt ging es weiter bis zum Kloster Kreuzberg, wo abschließend eingekehrt wurde. „Bisher haben wir von den Teilnehmern der Wanderwoche nur positive Rückmeldungen erhalten“, erzählt Brell. „Ich setze mich für eine inklusive Rhön ein und hoffe, auch in Zukunft wieder so ein Wanderevent anbieten zu können.“ (Miriam Rommel) +++