Alarmsignale richtig deuten
Von Depression bis Selbstverletzung - Die Kinder- und Jugendpsychiatrie hilft
Fotos: Herz-Jesu-Krankenhaus Fulda gGmbH
01.09.2016 / FULDA -
Graue Wände, Betten aus Metall – eine fürchterliche Vorstellung für Eltern und deren Kinder und Jugendliche. Dass das aber keinesfalls der Realität entsprechen muss, zeigt die Kinder- und Jugendpsychiatrie (KJP) im Herz-Jesu-Krankenhaus in Fulda. Hier herrscht vielmehr Jugendherbergscharakter. Die jungen Patienten dürfen es sich wohnlich machen, ihre Kuscheltiere mitbringen und die Wände mit Bildern bekleben. Holzbetten sollen während des mehrwöchigen Aufenthalts zusätzlich für einen gewissen „Wohlfühlfaktor“ sorgen.
„Drei Monate Klinik sind nicht unüblich je nach Störungsbild. Die Kinder und Jugendlichen sollen es nicht als Strafe auffassen, dass sie hier sind. Wenn sie sich ihr Zimmer einrichten dürfen, ist der Aufenthalt für sie leichter zu ertragen“, erklärt Privatdozent Dr. med. Frank M. Theisen, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie im Herz-Jesu-Krankenhaus.
Mit Inbetriebnahme der Akutaufnahmestation Ende August 2015 und der Möglichkeit Patienten geschlossen zu führen, sind sämtliche bettenführende Stationen in Betrieb. Das Leistungsspektrum umfasst Ambulanz, Tagesklinik und den vollstationären, bettenführenden Bereich. Generell sei die Auslastung hoch, könne natürlich auch gewissen Schwankungen unterliegen, weil es zum Beispiel auch ungeplante Aufnahmen gibt. „In unserer Klinik hatten wir in den letzten Jahren unter Einbezug der Daten von 2015 etwa 900 allgemeine Behandlungsanfragen pro Jahr. Je nach Fragestellung und Schweregrad wird dann unterschieden, ob sich daraus eher ein ambulantes oder stationäres Diagnostik- und Behandlungsangebot ergibt. Im Jahr 2015 hatten wir zum Beispiel circa 1.700 ambulante Patienten in Fulda und Bad Hersfeld, und etwa 170 tagesklinische Patienten. Auf den bettenführenden Stationen am Herz-Jesu-Krankenhaus Fulda konnten wir in den letzten zwölf Monaten etwa 320 Patienten stationär behandeln", erläutert der Facharzt.
Natürlich müsse nicht jedes Kind mit seelischen Problemen stationär behandelt werden. Manche Eltern seien auch übermäßig besorgt. Wenn Jugendliche sich zwar hin und wieder zurückziehen, ansonsten aber nicht vollkommen verschlossen sind, sei das kein Grund zur Besorgnis. Gehen junge Menschen jedoch ihren alterstypischen Entwicklungsschritten nicht mehr nach, besuchen nicht mehr ihre Schule oder gehen nicht zur Arbeit, pflegen keine Freundschaften oder suchen keinen Kontakt zur Familie, dann benötigten sie Hilfe. „Sicherlich gibt es auch in der Pubertät eine Häufung von Schwierigkeiten, zum Beispiel dass sich Jugendliche mehr zurückziehen oder es vermehrt Konflikte gibt aufgrund der Verselbstständigung, den sogenannten 'Autonomie-Bestrebungen'. Die Frage ist dann, wie stark der Jugendliche selbst, seine Entwicklungsschritte und die Umwelt darunter leiden“, erklärt Theisen, der selbst Familienvater ist. Zu den Alarmsignalen zählten Interessenverlust, Antriebs- oder Freudlosigkeit, Angstzustände, ein kompletter sozialer Rückzug, Gewichtsverlust und zwanghaftes oder sogar selbstverletzendes Verhalten. Theisen rät den Eltern, auf ihr Bauchgefühl zu hören.
Wenn Kinder und Jugendliche an einer psychischen Störung erkranken, liege meist ein Zusammenspiel von genetischen Faktoren und Umwelterfahrungen vor. Der Hinweis auf die Genetik bedeute aber nicht, dass das Schicksal quasi angeboren ist. Deshalb müssten die Umweltfaktoren genau betrachtet werden, als Ausgangspunkt für die Psychotherapie, aber auch weiterer pädagogischer sowie schulischer Hilfen. Zu den häufigsten Störungsbildern gehören aus klinischer Sicht Störungen des Sozialverhaltens sowie ADHS, allgemein Hyperaktivität genannt, aber auch Depression und Angststörungen. Nach repräsentativen Studien für Deutschland fanden sich Anzeichen für Ängste, Depression und weitere Symptome im Bereich von etwa fünf bis zehn Prozent der Fälle. "Die Häufigkeit anderer psychischer Störungen, wie zum Beispiel der Schizophrenie, ist konstant", sagt Theisen.
Weitere Risikofaktoren sind konfliktbelastete Familien, chronische körperliche wie psychische Erkrankungen oder Drogenkonsum der Eltern sowie Arbeitslosigkeit. Bei einigen Störungen spielten auch Risikogeburten, Frühgeburtlichkeit oder traumatische Erlebnisse eine Rolle. Je mehr Faktoren zusammenkommen, desto höher sei das Risiko für psychische Störungen beim Kind. „Diese Zusammenhänge sind aber statistischer Natur und bedeuten nicht unbedingt, dass ein Kind psychisch krank wird. Es ist bemerkenswert: Trotz vieler Risikofaktoren gibt es auch gute Verläufe bei manchen Kindern, die offenbar eine hohe Widerstandsfähigkeit haben, wir sprechen dann von Resilienz“, so Theisen.
„Die einzelnen Behandlungssegmente unterscheiden sich natürlich, also Ambulanz, Tagesklinik und vollstationäre Behandlung. Betrachten wir die Tagesklinik und die Stationen: Hier wird in einem Multiprofessionellen Team gearbeitet: Ärzte, Psychologen, Pädagogen, Sozialpädagogen, Pflege- und Erziehungsdienst sowie Co-Therapeuten - hierunter fällt Ergotherapie, Bewegungstherapie und Ernährungsberatung. Je nach Störungsbild wird eine individuell abgestimmte Psychotherapie durchgeführt. Mitunter ist auch eine medikamentöse Behandlung angezeigt“, erklärt der Facharzt abschließend. (Helena Lemp) +++