WIELOCHS WIRRE WELT (122):

Panaschieren komplexer als die IBAN: Noch immer tausende Bürger in Wahllokalen



11.03.2016 / REGION - Noch immer herrscht vor und in den Wahlkabinen im Landkreis Fulda dichtes Gedränge: Ersten Trends zufolge halten sich tausende Stimmberechtigte in den Wahllokalen auf, um sich mit mehreren Quadratmeter großen Stimmzetteln auseinanderzusetzen, die als Papierboot gefaltet bis zu acht Erwachsene auf der Fulda tragen können. Mathematiker der Justus-Liebig-Universität Gießen haben berechnet, dass Wählern 89 hoch 63 Optionen zur Verfügung standen, um ihre Kreuzchen zu vergeben. Um sich diese Fülle an Möglichkeiten besser vorzustellen, hier die dazugehörige Zahl: 64799315552775784 5614936867506361788 54 6038306599610000750 11174673 8586007967136894998 81542804720103720179 8836259353532155369.



Der frühere Oberbürgermeister Gerhard Möller räumte ein, dass das Kommunalwahl-System mit Kumulieren und Panaschieren eine noch größere Herausforderung darstelle, als sich die eigene IBAN für Banküberweisungen zu merken. Im Januar war einem Abiturienten des Fuldaer Freiherr-vom-Stein-Gymnasiums als erstem Hessen das Kunststück gelungen, seine 22-stellige IBAN aus dem Kopf und ohne fremde Hilfsmittel aufzusagen, 31 TV- und Radiostationen berichteten damals live. „Hierauf habe ich mich zwei Jahre vorbereitet“, erklärte der 18-Jährige. Den Gang zur Urne in der Barockstadt wagte der Wunderschüler, der nebenbei in Oxford zum Thema „A Fractal Topology of Time: Implications for Consciousness and Cosmology“ promoviert, jedoch nicht: „Selbst ein moderner Quantencomputer bräuchte Wochen, um alle verfügbaren Möglichkeiten durchzuspielen.“ Wählen bedeute für den jungen Mann jedoch kein unüberlegtes Vergeben von Stimmen, „sondern das Ergebnis einer rationalen Kosten-Nutzen-Abwägung“.

Spitzenpolitiker von CDU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen und CWE schlussfolgern deshalb, dass das undurchschaubare Wahlsystem für den Triumph der AfD am vergangenen Sonntag verantwortlich gewesen sei. „Intelligente Wähler haben es nicht kapiert und sind zu Hause geblieben“, lautet der einhellige Tenor. Hinter verschlossenen Türen tüfteln die Parteien deshalb gemeinsam mit Wahlkampf-Strategen an neuen Slogans für die Bundestagswahl, um provokant für den Urnengang zu werben: Bereits im Druck ist das Plakat „Nicht nur Deppen wählen“ mit ambivalenter Aussage, da die Deppen sowohl als Subjekt als auch Akkusativobjekt dienen können (nähere Erklärungen hierzu finden Deppen im Internet unter www.grammatikdeutsch.de/).

In den Wahlräumen des Landkreises freuen sich derweil völlig dehydrierte und geschwächte Bürger, die seit Sonntag mit ihrem Stimmzettel kämpfen, über eine gigantische Welle der Hilfsbereitschaft und Solidarität von hunderten Flüchtlingen. Diese verteilen Decken, Getränke sowie Lebensmittel und halten vor den Wahllokalen Schilder mit dem Aufdruck „Wähler Welcome“ hoch. Eine Gruppe von Syrern, Eritreern und Afghanen hat sogar eine politische Vereinigung gegründet. Name: AfD, Ausländer für Deutschland. Ziel: „Wir wollen Deutsche trotz der Schwierigkeiten und widrigen Umstände motivieren, wählen zu gehen. Mehr als einen Kandidaten zur Auswahl zu haben, mit diesem Dilemma haben wir uns bisher nicht beschäftigen müssen.“ (Jochen Wieloch) +++

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