Zwischen Kult und Klostein

Kurztrip nach Liverpool: Jürgen, die Beatles und der Cavern Club

Kult: die Anfield Road mit Blick auf die legendäre Fan-Tribüne The Kop
Fotos: Jülichs / Herrling

20.01.2016 / FUSSBALL - Enge Stadien, eine einmalige Atmosphäre und körperbetonter Fußball – die englische Liga beherrscht zwar seit Monaten wegen ihren umstrittenen Summen die Schlagzeilen, ihren Reiz auf den Fan hat sie aber nicht verloren. Unser Sportvolontär Tobias Herrling hat sich einen lange gehegten Traum erfüllt und ist zu einem Spiel der englischen Premier League gereist.

Die ersten Akkorde erklingen. Dann erhebt das Stadion seine Stimme. „When you walk through a storm hold your head up high …“. Gänsehaut. Es ist Mittwochabend, der 13. Januar 2016. Anfield Road, Liverpool. Der englische Traditionsverein empfängt den Tabellenführer Arsenal London. Einer der Klassiker des englischen Fußballs. An diesem Mittwochabend sollten beide Mannschaften im mit über 45.000 Zuschauern ausverkauften Anfield - so der offizielle Name - ein Spektakel bieten.

Einmal auf die Insel reisen und die Atmosphäre in den englischen Stadien aufsaugen. Ganz weit oben auf unserer Liste: Liverpool oder Manchester United. Seit Jahren verfolgten wir den Plan, setzten ihn aber nicht in die Tat um. Als Jürgen Klopp im Oktober letzten Jahres das Amt beim Liverpool Football Club übernahm, stand für uns fest: „Jetzt müssen wir dahin.“ Nur zu welchem Spiel? Erst fiel die Wahl auf das Heimspiel im März gegen Manchester City. Dann entdeckten wir freie Karten für die Begegnung gegen Arsenal London im Januar. Billiger, bessere Plätze und zwei Weltmeister im Kader der „Gunners“ – wir machten Nägel mit Köpfen und buchten die Fußball-Reise.

Regen, Wind und kein Pub in Sicht

Letzte Woche Dienstag hebt der Flieger im Münchener Morgengrauen ab, Landung in Manchester und per Bus weiter in die Hafenstadt an der Mersey. Vor uns liegen zwei Tage in der Arbeiterstadt im Nordwesten Englands, die man vor allem mit dem Liverpool Football Club – wie der Verein offiziell heißt – und den „Beatles“ verbindet. Unser erster Weg führt uns gleich zum Stadion: wir holen unsere Karten, um lange Wartezeiten am Mittwoch zu vermeiden. Ein paar Bilder von der legendären Fan-Tribüne „The Kop“ und ein Besuch im Fanshop später schon die erste kuriose Erfahrung: ein älterer Herr küsst der Statue von Bill Shankly, der mit Liverpool eine Ära prägte, die Füße. „Er war unser größter Trainer. Das mache ich vor jedem Spiel, das ist ein Ritual“, klärt uns der Mann auf. Unter dem Schotten Shankly stieg der LFC einst in die höchste Liga des Landes auf und dominierte jahrelang den englischen Fußball.

Wir sehen uns im Umfeld des Stadions, das (auch) an der Anfield Road liegt und im allgemeinen Sprachgebrauch so genannt wird, um: das liegt – typisch englisch – mitten in einem Wohngebiet des Stadtbezirkes Anfield. Kleine Häuser aus Backstein reihen sich aneinander und sorgen für den bekannten Charme einer englischen Arbeitersiedlung. Dann: Regen und Wind. „War ja klar“, denken wir uns nachdem am Morgen noch die Sonne schien. Ein Pub zum Aufwärmen käme gelegen, doch keine der Einkehrmöglichkeiten im Viertel hat geöffnet. Wir nehmen ein Taxi zurück in die Stadt und fahren mit einem äußerst freundlichen und humorvollen Engländer. Small-Talk. „Wo seid ihr gelandet?“ Vielleicht hätten wir bei unserer Antwort lügen sollen. „Oh, 'Dumbchester'. Das könnt Ihr doch nicht in einem Liverpooler Taxi sagen“, weist er uns zurecht - um gleich darauf einen Witz zu machen. Die Rivalität zwischen Liverpool und Manchester geht offenbar weit über den Fußball hinaus. Doch sein breiter Dialekt - dem Scouse - und unser Englisch auf Schulniveau sorgen für Missverständnisse. Wir wollen wissen, wo wir die besten Pubs finden und bekommen Auskunft über Freudenhäuser - wir klären die Situation und er empfiehlt uns die Mathew Street.

Auf den Spuren der Beatles

Dort reiht sich Pub an Pub und auch der Cavern Club, von dem aus die „Beatles“ zur erfolgreichsten Band der Geschichte wurden, ist dort zu finden. Doch zunächst machen wir uns - es regnet immer noch - auf den Weg zu den berühmten Albert Docks. Wir besuchen das Museum „The Beatles Story“. Es ist das einzige weltweit, das sich vollständig der Geschichte von John Lennon, Paul McCartney, George Harrison und Ringo Starr widmet. Über die Anfänge der Vorläufer-Bands und den Gründungsmitgliedern erfährt man jede Menge informatives und bekommt zahlreiche Antiquitäten aus der Geschichte der „Beatles“ zu sehen. George Harrison's erste Gitarre, das signierte „White Album“ von Paul McCartney oder John Lennon's berühmte runde Brille. Auch Nachbauten eines gelben U-Bootes, in dem natürlich in Dauerschleife „Yellow Submarine“ läuft und des Cavern Clubs kann man im Beatles-Museum bestaunen.

Am Dienstagabend wollen wir aber in das Original - wobei das nicht ganz stimmt. Der ursprüngliche Cavern Club fiel dem geplanten Bau einer U-Bahn, die allerdings nie gebaut wurde, zum Opfer, das Gebäude wurde 1973 abgerissen. Elf Jahre später wurde er wieder aufgebaut, teilweise mit den originalen Backsteinen. Drei Stockwerke unter der Erde liegt der Gewölbekeller und mit jeder weiteren Treppe nach unten steigt einem der Geruch von Klostein in die Nase. Angeblich soll das schon immer so gewesen sein. Der Cavern Club - er ist beeindruckend. Ein langer Mittelgang an dessen Ende die Bühne steht, links und rechts führen kleine Bögen zu weiteren Plätzen. Alles aus Backstein - und alles vollgeschrieben. Jeder Besucher scheint sich hier verewigt zu haben, freie Plätze auf den Steinen gibt es kaum. Und an den Wänden hängen natürlich Bilder der „Beatles“, aber auch von anderen Musikern oder Prominenten, die im wohl berühmtesten Club der Welt waren. Von zehn Uhr morgens bis Mitternacht wird Live-Musik gespielt und man kann eintauchen in die Musikgeschichte Liverpools. Künstler, die nur zwei Sachen brauchen, um die Gäste in ihren Bann zu ziehen: eine Gitarre und ihre Stimme. Logisch, dass überwiegend Songs der „Pilzköpfe“ gespielt werden. An diesem Abend bekommen wir jedenfalls ein ungefähres Gefühl dafür, wie das damals gewesen sein muss. Als die „Beatles“ für Ekstase und reihenweise Ohnmachtsanfälle sorgten.

„Where’s your famous atmosphere?“

Mittwochmorgen. Noch zehn Stunden bis zum Anstoß. Wir machen uns auf zum Hafen. Am Ufer der Mersey reiht sich Denkmal an Denkmal für bei Unglücken verstorbene oder im Krieg gefallene Seefahrer. Und natürlich eine der zahlreichen Statuen der „Beatles“. Gegenüber, Richtung Stadt: die berühmten „The Three Graces“ in Liverpool. Royal Liver Building, Cunard Building und Port of Liverpool Building. Berühmte und beeindruckende Gebäude, in denen heute Verwaltungen, Unternehmen und die schwedische Botschaft untergebracht sind. Den Mittag verbringen wir mit Shoppen. Denn auch das ist Liverpool: eine moderne Innenstadt mit Einkaufsmöglichkeiten an jeder Ecke.

18:30 Uhr: mit dem Taxi geht's nach Anfield. Die Straßen um das Stadion sind gesperrt, überall haben Händler ihre Stände aufgebaut. Trubel. Beeindruckend, wie reibungslos der Ablauf ist. Trotz Lage in einem Wohngebiet. Zum Vergleich: in Deutschland werden Stadien auf der grünen Wiese errichtet. Wegen Infrastruktur und so. Anfield aber ist Kult und hat Charme. Im Stadion dann die größte Überraschung unserer Reise: nach dem Ticket-Schalter keine persönliche Kontrolle. Eigentlich unglaublich, aber in England scheint es zu funktionieren. Dafür wird vermutlich jeder Winkel videoüberwacht. Denn während dem Spiel werden in unserer Nähe zwei Fans von Polizisten aus dem Stadion begleitet. 

Wir sitzen auf der Main Stand - der Haupttribüne - auf alten, abgeranzten Holzstühlen. Wie überhaupt das Stadion irgendwo zwischen den 80er und 90er Jahren stehen geblieben ist. Kein Komfort, aber geil. Den Ton geben die Fans von Arsenal London an. Was von Liverpool kommt, enttäuscht uns. „Where’s your famous atmosphere?“ und „Shall we sing a song for you?“ skandieren die Fans der „Gunners“ höhnisch. Kurz vor Abpfiff bebt die Anfield Road ein letztes Mal: Joe Allen markiert in der 90. Minute den 3:3-Ausgleich für die „Reds“ und lässt Jürgen Klopp und die Zuschauer ausrasten. Von der Dramaturgie hätten wir kein besseres Spiel erwischen können. Vier Tore in den ersten 20 Minuten und der Lucky-Punch wenige Momente vor dem Abpfiff. In einem Pub lassen wir das Erlebte Revue passieren. Wir sind erschöpft und müde. Und um eine tolle Erfahrung reicher: This is Anfield. (Tobias Herrling) +++

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