WIELOCHS WIRRE WELT (85)

Das postmoderne Märchen vom gelben Saftladen: Ihr Briefträger, bald die ärmste Sau



26.06.2015 / REGION - Nach knapp drei Wochen Post-Streik geht einem der gelbe Saftladen allmählich auf den Keks. Sehnsüchtig wartet man auf seine neue BahnCard, weil Sorgenkind Nummer zwei ausnahmsweise mal keinen Kummer bereitet. Man ärgert sich über das letzte üppige Weihnachtsgeld, das man dem Briefträger aus Mitleid zugesteckt hat. Und man könnte vor Wut platzen, weil man seinen Schäferhund Rex bisher immer brav im Vorgarten angeleint hat. Doch irgendwann müssen die Postler die Briefkästen ja wieder mal füttern. Und dann wird das Vergnügen groß – zumindest für die Empfänger.



Kennen Sie einen Briefträger, der nicht – vollkommen zu Recht – schon jetzt über sein tägliches Pensum jammert, über immer längere Touren und immer mehr Zustellungen? Na dann herzlichen Glückwunsch! Bald kommt der Tag, an dem die gehamsterte Beute der vergangenen Wochen ausgetragen oder ausgefahren werden darf. Die aktuellen Postfahrräder ächzen bereits heute unter der Last von zwei bis drei Briefsäcken. Viel Vergnügen, in Bälde baumeln hier 60 bis 70 Taschen und Säcke mit Werbung, Mahnungen, Liebesbriefen und Kündigungen. In einem Blitzworkshop bei den Artisten des Cirque du Soleil haben die Briefträger deshalb die wichtigsten Grundlagen in Akrobatik, Jonglage und Stunt erlernt, um zumindest auf der wenigen Meter langen Strecke zwischen zwei Hochhausblöcken das Gleichgewicht zu halten. Auch Bremsen will mit solch einem überladenen Zweirad gelernt sein. Echt blöd, dass Ihr Rex seine Leine gerade erst heute kaputt gebissen hat…

Den klassischen gelben Postbus werden Sie so schnell nicht mehr sehen. Hier rollen demnächst 38-Tonner mit mehreren Anhängern an. So ein Pech, dass der Postler dabei vor Ihrem Haus das ein oder andere Fahrzeug plattwalzt und im Vorgarten Beete und Sträucher umpflügt. Aber in seiner Freizeit fährt Ihr Zusteller halt nur Fiat Panda, und die Post-Manager haben aus gutem Grund erst gar nicht gefragt, ob eine entsprechende Fahrerlaubnis vorliegt. Lassen Sie sich Ihr neues Auto am besten per Päckchen schicken, dann hat Ihr Briefträger zur Strafe wenigstens was zum Schleppen.

Wenn es die Post selbst nicht ganz so genau nimmt und das postmoderne Märchen verbreitet, 80 Prozent aller Briefe kämen an, dann handeln Sie in Zukunft genauso. Nur noch eine alte Zehn-Cent-Briefmarke zur Hand? Auf den Maxibrief damit und ab in den Briefkasten. Soll Ihr Postler das Ding doch wieder zu Ihnen apportieren, wenn er zu pingelig ist, um es auszuliefern. Auf Postleitzahlen und Hausnummern verzichten Sie in Ihren Anschreiben künftig ganz – wer wochenlang faulenzt, soll doch gefälligst zusehen, wie er den richtigen F. Meier in München findet. Ihr „a“ sieht übrigens nur so aus wie ein „e“…

Der Post-Streik macht nicht nur wütend, er verleitet auch zum Umdenken. So doof ist eine Tageszeitung gar nicht. Das gilt nicht, sollten Sie in Osthessen leben. Aber wenn Sie auf einer einsamen Hallig, einer abgeschiedenen Insel oder einem Gehöft im Nirgendwo zu Hause sind. Sollte Ihr Briefträger motzen, weil er extra zu Ihnen wegen einer Postkarte kommen musste, dann offenbaren Sie ihm doch diese gute Nachricht: „Ab morgen kriege ich die Tageszeitung!“ (Jochen Wieloch) +++





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