Auf der Suche nach der Wahrheit ...

Schach dem Richter: „Der zerbrochne Krug“ feiert Festspiel-Premiere


Alle Fotos: (c) Klaus Lefebvre

15.06.2015 / BAD HERSFELD - Liebliche, fromme Chorgesänge, die den Frühling ankündigen, durchbrechen die Stille. In den Gassen des niederländischen Dörfchens Huisum geht es weniger beschaulich zu: das Volk straft sich gegenseitig mit missbilligenden Blicken, ignoriert sich. Die beiden Mägde Margarete und Liese (köstlich: Lisa und Laura Quarg), die sich wie ein Ei dem anderen gleichen und eigentlich zu einer Person verschmolzen sind, prügeln sich auf offener Straße. Ein völlig ramponierter Dorfrichter Adam (genial: Stephan Schad) betritt hinkend die Gerichtsstube. Seinen Kopf „ziert“ eine tiefe Wunde, zudem ist er mit einem Klumpfuß „gesegnet“.

Auf Nachfrage des gewissenhaften Gerichtsschreibers Licht (brillant: Nikolaus Kinsky) antwortet er, dass er beim Aufstehen aus dem Bett gestürzt sei. „Der erste Adamsfall, den Ihr aus einem Bett hinaus getan“, kommentiert der Schreiberling die Schilderung des Dorfrichters. Als Adam die unmittelbar bevorstehende Ankunft des Gerichtsrates Walter (großartig: Nina Petri) vermeldet wird, reagiert er völlig konfus, panisch und verliert die Beherrschung. „Halts Maul!“, „Zum Henker!“, „Scher Dich zum Satan!“, „Der Teufel soll mich holen!“ – mit derben Beschimpfungen traktiert er seine Gefolgschaft.

Alles was zählt, ist die Wahrheitsfindung

Zu allem Übel ist an jenem kalten, verschneiten Februarmorgen auch noch Gerichtstag: Die völlig aufgebrachte Frau Marthe Rull (fulminant: Marie Therese Futterknecht) beschuldigt den Verlobten ihrer Tochter Eve (Andrea Cleven mimt in hervorragender Manier das brave, schüchterne Mädchen), Ruprecht Tümpel (erstklassig: Sébastien Jacobi, der den einst für diese Rolle vorgesehenen Markus Gertken ersetzt), am Vorabend in deren Kammer gewesen zu sein und dort einen Krug – den Krug der Krüge – zerbrochen zu haben. Vehement pocht die Mutter auf ihr Recht, die Wahrheit ans Licht zu bringen, um die Ehre ihrer Tochter zu retten. Doch Dorfrichter Adam, der selbst in den Fall involviert ist und dem das Wasser bis zum Hals steht, nimmt es mit der Wahrheitsfindung nicht so genau. Immer tiefer verstrickt er sich in ein Geflecht aus Lügen und versucht mit abstrusen, irrwitzigen Behauptungen, alle Beteiligten aufs Glatteis zu führen. Das „Drama“ nimmt seinen Verlauf. Die Schlinge um seinen Hals zieht sich unaufhaltsam zu – vor allem, als Frau Brigitte (trotz ihres Kurzauftrittes wahnsinnig präsent: Viola von der Burg) in den Zeugenstand tritt…

Es ist eng, unglaublich eng in der Bad Hersfelder Stiftsruine. Holk Freytag entführt in seiner Inszenierung des „Zerbrochnen Kruges“ von Heinrich von Kleist, die den Charakter eines Kammerspiels aufweist, die Festspielgänger in einen kleinen Gerichtssaal. Draußen schneit es. Kahle Bäume prägen das Landschaftsbild. Verwelktes Laub überdeckt die Gehwege. Ein Bollerofen spendet wohlige Wärme. Über der Tür hängt ein Kruzifix – und das an einem Ort, an dem es ganz und gar nicht christlich zugeht. Auf dem Richtertisch ist ein Apfel – die Frucht der Versuchung – platziert. Eine Braunschweiger Mettwurst, die sich bei genauem Hinsehen als waldhessische Stracke entpuppt, gesellt sich dazu: Dorfrichter Adam ist bestechlich. Den Richterstuhl und den Schaukelstuhl, auf dem sich die milde, genügsame, aber dennoch burschikos und dominant auftretende Gerichtsrätin (!) Walter (Adam ist eindeutig kein Freund der Frauenquote) niedergelassen hat, schmücken Schachbrettmuster. Die Figuren formieren sich. Dorfrichter Adam droht das Schachmatt. Weit hinten im Querschiff der Stiftsruine hat ein Plastikpferd Stellung bezogen. Ein „weißer Schimmel“? Der Amtsschimmel?

Die Macht der Sprache und der Bilder

Dem Ansinnen Heinrich von Kleists folgend, setzt Holk Freytag in seiner Inszenierung auf Wortspiele, Mehrdeutigkeiten und Anspielungen: auf die Macht der Sprache. Und – auf die Macht von (starken) Bildern, von Metaphern. Ein Konzept, das vollends aufgeht, indem es im Zuschauer ein Gefühl von Unmittelbarkeit aufkeimen lässt. Der Theaterfreund findet sich inmitten des Geschehens – auf den Zuschauerrängen des Gerichtssaales – wieder, wird direkter Zeuge von der Suche nach Wahrheit. Obwohl: eigentlich schwebt er, trotz der entstandenen Nähe, über den Dingen. Sowohl Angeklagte als auch Zeugen tragen ihre Aussagen nicht vorm Dorfrichter oder der Gerichtsrätin vor, sondern kehren ihnen den Rücken zu: Sie sprechen direkt das Publikum an, als handle es sich bei diesem um eine höhere Instanz, die einzig und allein fair zu urteilen vermag. Nur Frau Marthe Rull scheint den Glauben an „irdische“ Gerechtigkeit nicht verloren zu haben, sie blickt Adam, der am Ende aus seinem „Paradies“ – aus seinem Richteramt – vertrieben wird, in die Augen.

Köstlich ist es zudem, Holk Freytags altbewährtes Ensemble auf der Bühne agieren zu sehen. Eine eingeschworene Gemeinschaft, eine Einheit, in die sich Nina Petri auf bewundernswerte Weise nahtlos einfügt. Die Schauspieler sind es, die mit ihrem überragenden Spiel den „Krug“ zum Überlaufen bringen. Sie hauchen den Figuren, die alles wissen, alles erklären können und dabei vom Hundertsten ins Tausendste kommen, Leben ein. Allen voran Stephan Schad, der den unfreiwillig komisch agierenden Dorfrichter Adam gibt, der eine Vielzahl von menschlichen Schwächen in sich vereint.


Logisch, dass am Ende die Gerechtigkeit die Oberhand gewinnt: Gerichtsrätin Walter, die die Ideen der Aufklärung vertritt, setzt den redegewandten, gebildeten, aber auch ehrgeizigen und illoyalen Schreiber Licht, nachdem sie den Dorfrichter seines Amtes enthoben hat, als Verwalter ein. Ruprecht und Eve, die beiden Liebenden, finden endlich zueinander. Und der Apfel der Versuchung, der noch immer unberührt auf dem Richtertisch liegt? Licht ergreift ihn und schmettert ihn mit voller Wucht auf den Boden.

Die Macht des Bildes siegt an diesem Premierenabend über das Böse. Scherben fügen sich wieder zu einem Ganzen zusammen. Alles ist gut… Auch bei der „höheren Instanz“, den Festspielgängern: sie würdigen Freytags Inszenierung des „Zerbrochnen Kruges“ sowie die grandiose Leistung der Schauspieler und der Statisten mit donnerndem lang anhaltenden Applaus. (Stefanie Harth) +++

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