Serie: Willkommen bei uns in Osthessen (2)
Der erste Schritt zur Integration – Eintauchen in fremde Lebenswelten
Fotos: Stefanie Harth
09.05.2015 / KIRCHHEIM -
Vorsichtig lässt Marianrun ihren Zeigefinger über den Ortsplan von Kirchheim gleiten. Die Hauptstraße hat die Somalierin bereits gefunden; jetzt „biegt“ sie rechts in die Schloßstraße ab. Abiqaadir Isaq, Abdu, Robel, Omar Mire, Said, Thras und Ghandi tun es ihr gleich. Alle visieren sie die Schloßstraße an. Kein Wunder: befindet sich doch hier die Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge, die derzeitige „Übergangsheimat“ der acht jungen Menschen. Gemeinsam nehmen sie an einem einwöchigen Sozialtraining teil, das unter dem Titel „Lebenswelten“ steht und Teil des Projektes „Interkulturelles Qualifizierungsmanagement im Landkreis Hersfeld-Rotenburg“ ist.
Nach der erfolgreichen Straßensuche, stellen Andrea Hilger und Jan Elfers vom ambulanten Team Hephata in Bad Hersfeld ihren Schützlingen die nächste Aufgabe: das Aufspüren von Rufnummern aus dem örtlichen Telefonbuch. Kein leichtes Unterfangen für die Kursteilnehmer. Schließlich müssen sie erst lernen, die für sie völlig fremd klingenden Vor- und Nachnamen voneinander zu unterscheiden, hinzu kommen sprachliche Barrieren mit ihren „Trainern“. Die beiden Sozialpädagogen meistern mit einer Mischung aus Deutsch und Englisch erfolgreich dieses Hindernis. Marianrun, die vor zwei Monaten in Kirchheim gestrandet ist, übersetzt für ihren Tischnachbarn. Nach knapp einer Stunde hat das Gros das Ordnungsprinzip des Telefonbuches durschaut. Fleißig werden die gesuchten Rufnummern auf Zetteln notiert und an die große Schultafel geschrieben. Marianrun ist glücklich: Sie, die in unserer Sprache die Zahlen von eins bis 999 perfekt aufsagen kann, hat ganz „nebenbei“ ein ihr noch fehlendes Wort gelernt. „Null“, parliert sie mit einem strahlenden Lächeln auf ihren Lippen.
Mittlerweile sind Abiqaadir Isaq, Abdu, Robel, Omar Mire, Said, Thras, Marianrun und Ghandi mit Feuereifer dabei, die auf einem Prospekt abgedruckten Lebensmittel auszuschneiden und diese zu sortieren. Vor ihnen liegen drei weiße Plakate, jedes von ihnen trägt eine andere Überschrift: Glasmüll, Biomüll, Gelber Sack. Akribisch ordnen die sechs Jungs und die beiden Mädels die Produkte den einzelnen Plakaten zu, um sie – nach einem bestätigenden Nicken der beiden Sozialpädagogen – mit Klebstoff an die richtige Stelle zu platzieren. Geschafft! Nach vier Stunden des angestrengten Lernens ist Schluss für heute.
Abiqaadir Isaq, Abdu, Robel, Omar Mire, Said, Thras, Marianrun und Ghandi sind acht von insgesamt 31 Flüchtlingen, die zurzeit in der Kirchheimer Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge leben. Weitere 44 Migranten sind in vom Landkreis angemieteten Wohnungen, ebenfalls in Kirchheim, untergebracht. Syrien, Eritrea, Somalia, Afghanistan, Algerien und Äthiopien waren einst ihre Heimatländer – allesamt Krisengebiete. In unseren Gefilden angekommen, hoffen sie auf ein besseres Leben. Auf ein Leben ohne Terror, Hass, Todesangst, Verfolgung und Gewalt. „Viele Jugendliche, die bei uns wohnen, sind traumatisiert“, unterstreicht Anna Peters, die stellvertretende Heimleiterin.