25 Jahre Mauerfall (Folge 9)
GENSCHER, Kiwi und vier Kilo Joghurt: David ALTHEIDE in der Prager Botschaft
Fotos: Hans-Hubertus Braune
02.11.2014 / REGION -
Eine Flucht von Tausenden
"Die Fluchtgeschichte meiner Familie beginnt weit früher als 1989. Bereits als Minderjährige im Alter von 16 Jahren wurde meine Mutter bei einem Fluchtversuch verhaftet. Zusammen mit einer Freundin, die auch noch Tochter eines hohen Parteifunktionärs war, wurde Sie von einem freiwilligen Grenzhelfer in der 5-Km Sperrzone kontrolliert, erkannt und verhaftet. Erkannt deshalb, da die beiden sofort nach Ihrem Verschwinden, zur Großfahndung ausgeschrieben waren. Doch was hatten die beiden nun zu erwarten. Beide wurden erstmal getrennt und sahen sich nie wieder.
Einige Zeit nach der 19-Monatigen Haft kam Ihr Sohn David, also ich, auf die Welt. Die Behörden wollten mich sofort zur Zwangsadoption freigeben - doch dies passierte erstaunlicherweise nicht. Meine Mutter drohte Einzelheiten der Haft an die westdeutsche Öffentlichkeit zu bringen. Durch damals sehr gute Kontakte wäre dies möglich gewesen und dessen war sich auch die Staatssicherheit bewusst und es wurde von dieser grausamen Maßnahme abgesehen. Auf die Hochzeit mit meinem Stiefvater folgte ein Umzug innerhalb meiner Geburtsstadt Weida im Vogtland. Ab diesem Zeitpunkt war die Überwachung meiner Eltern durch den Geheimdienst offensichtlich, denn ein mehr oder weniger inoffizieller Mitarbeiter zog mit in das Mietshaus. Vater war übrigens damals Unteroffizier der Reserve - er war Panzerkomandant.
Im Frühherbst 1989 die Tage die alles änderten. Früh morgen, wir sollten der Schule fernbleiben, ging es mit einer Reisetasche zum Bahnhof und wir bestiegen den Zug Richtung irgendwo. Vater, Mutter, meine 8-jährige Schwester und ich. Als wir fragten, wohin es geht, bekamen wir nur die Antwort eine uns unbekannte Tante besuchen. Als wir an der tschecheslowakischen Grenze ankamen, bekamen wir die Strenge Anweisung den Mund zu halten. Mir fehlten aber eh gerade die Worte, denn welche Tante von uns wohnt denn bei den Tschechen? Die Tür des Abteils wurde von Grenzern aufgerissen und es wurde unfreundlich nach den Papieren und dem Zweck der Reise gefragt. Verwandte in Prag besuchen, war die Antwort und es wurde eine giftgrüne Flasche Pfeffi-Likör als Geschenk aus der Tasche gezaubert.
Wahrscheinlich waren meine Eltern überrascht, als die Grenzer eine gute Reise wünschten und ins nächste Abteil gingen. Nun sahen wir aber plötzlich, wie eine junge Familie samt Kind aus dem Zug gezerrt wurde - die Frau übrigens an den Haaren. Nun war totenstille im Zug und man hörte nur noch die Stiefelschritte der Grenzer. Nach einer knappen Stunde Kontrolle und einigen weiteren Festnahmen fuhr der Zug wieder an. Was all das zu bedeuten hatte, wusste ich zu diesem Zeitpunkt immer noch nicht - nur war im Zug etwas Erleichterung zu spüren und mir fiel langsam auf, das nur Deutsche in diesem Zug nach Prag saßen. Mittlerweile war es Nachmittag und wir mussten umsteigen. Als wir einen tschechischen Schaffner nach dem Gleis fragen, schaut uns dieser grinsend an und fragte „West und sofort bekam er die Antwort „Nix West-Prag allerdings auch mit einem Grinsen.
Als wir in Prag ankamen stellte ich erstmal fest, dass hier auch allen Deutsch sprachen - ich fragte mich wo wohl die ganzen Tschechen warenZusammen mit einer Gruppe aus unserem Zug ging es durch die Stadt bis wir an einen großen Platz kamen, wo sich eine Menschenmenge aufhielt - wieder nur Deutsche. Hier suchten wir uns einen Platz und verharrten einigen Stunden. Durch Gespräche der Anwesenden wurde mir dann auch langsam klar warum wir hier in Prag waren. Jedoch die Angst vor dem bösen Westen, wo ein Brot unglaubliche 5 Mark kosten sollte und arme Kinder ihren Durst an der Benzinzapfsäule stillen, wich einer wohl kindlichen Abenteuerlust. Zwischendurch schliefen meine Schwester und ich abwechselnd auf der Reisetasche - außerdem wurde es auch langsam dunkel und kalt. Vater war zwischendurch immer mal wieder an der Botschaft Informationen sammeln - die Botschaft selbst war von unserm Platz aus nicht zu sehen. Immer mal wieder hörte man auch, die Stasi wäre unter den Flüchtlingen, was wohl auch der Fall war. Einige Touristen aus der DDR mischten sich in die Menge und ließen sich wohl tausende Ost-Mark und sogar Autoschlüssel schenken.
Ob es auch wirklich Touristen waren - wer was das schon. Als es dann richtig kalt wurde, kam Bewegung in die Menge. Die Frauen und Kinder sollten in die Botschaft gebracht werden. Durch die Menge ging es die Straße hinauf Richtung Botschaftstor und drinnen sofort wieder eine Etage tiefer in den Keller. Hierbei mussten wir über Dutzende schlafender Menschen steigen, die in den Gängen und auf der Treppen lagen. In einem Kellerraum ohne Fenster hatte man ein Matratzenlager errichtet und in einer Ecke standen Paletten mit Joghurt. Das sollte unser Platz werden, war der spontane Vorschlag meiner Schwester - eine kluge Entscheidung. Denn nun kamen wir in den Genuss von Joghurt mit echten Früchten. Nach gefühlten 4 KG Joghurt verbrachten wir nun unsere erste Nacht außerhalb der DDR. Am nächsten Morgen stand der Weg zu Toilette an - nein nicht der Weg stand an, sondern wir. Nämlich 2 Stunden. Solang dauert es, wenn zwei Toilettenwagen für knapp 4.000 Personen zu Verfügung stehen. Wir konnten während der Wartezeit auch in den Botschaftsgarten schauen und hier sah es aus wie bei den Indianern. Überall rauchende Zelte und zerzauste Personen. Was sich hier so harmlos anhört, war jedoch das organisierte Chaos. Ohne die Rot-Kreuz-Helfer und das ohne Ende arbeitende Botschaftspersonal wäre hier eine Katastrophe ausgebrochen.
Nach zwei langweiligen Tagen im Keller kam plötzlich richtig Bewegung in die Massen. Ein Politiker sollte kommen - viele dachten der Kanzler kommt. Doch dann rief einer er habe gerade den Genscher gesehen. Nun hörte man auch Applaus aus dem Treppenhaus und ständig riefen Leute etwas. Am Abend strömten die Menschen Richtung Botschaftsgarten und wir mit - Mutter konnte uns ja nicht allein im Keller lassen. Draußen war aus sehr eng - all die Leute zwischen den nah beieinander stehenden Zelten machten die Sache ungemütlich. Aber mein Interesse wurde nun von einigen Kamerateams geweckt, die hier und dort standen und einen Balkon ins Visier nahmen, der auch langsam immer heller wurde - auch wiederum durch ein Kameralicht. Mehrere Personen traten raus und es sprach jemand etwas durch des Megaphon. Ich muss gestehen, ich hab gar nicht zugehört - aber auf einmal war alles am Jubeln und lag sich in den Armen. Wenn ich das heute immer mal wieder im Fernsehen betrachte, läuft es mir eiskalt den Rücken runter.
Der Zug fuhr nun an und es ging entspannt durch die Dunkelheit. Entspannt bis zum Stop an der Grenze CSSR-DDR - die Flüchtlinge wurden nun nervös, aber es gab hier keine Kontrolle und ging flott weiter. Flott war es wirklich, denn der Zug fuhr nun deutlich schneller. Der Grund war ganz einfach - es sollten keine DDR-Bürger auf den fahrenden Zug aufspringen können. Im Zug schlief kaum jemand, denn das Gefühl, sich gerade wieder in der DDR zu befinden, sorgte für Beklemmung und Angst. Auf der Strecke fielen uns auch die leeren Bahnhöfe mit den bewaffneten Uniformierten auf, ganz besonders in Dresden. Wie man später erfuhr, kam es rund um den Bahnhof zu schweren Ausschreitungen. Früh morgens erreichten wir den Grenzübergang zur BRD. Soldaten bestiegen den Zug - Totenstille. Bei den nachfolgenden Passkontrollen, die sich zwei Stunden in die Länge zogen, wurden die Ausweise übrigens gleich eingesammelt. Danach wurden die Tore vor dem Zug geöffnet und dieser fuhr an. Übrigens der Moment, in dem ich zum ersten Mal in meinem Leben Grenztürme und Stacheldraht sah. Nachdem wir das Tor passiert hatten, kam nach einigen Metern seitlich das Schild Bundesrepublik Deutschland. Die Stimmung im Zug konnte man nun nur noch mit dem Kölner Karneval vergleichen - es war ein Tollhaus. Minister Seiters durfte sich so manchen Lippenstiftfleck von der Backe wischen und für die Flasche Pfeffi-Likör hatte nun auch des letzte Stündlein geschlagen.
Der Erste Bahnhof den wir anfuhren war Hof in Bayern. Tausende Menschen standen an den Bahnsteigen und steckten uns durch die Fenster Bananen, Schokolade, Getränke und auch Kuscheltiere zu. Das war also der böse Westen. Wir verliessen den Zug und wurden durch das Rote Kreuz direkt am Bahnhof mit frischen Kleidern versorgt. Denn in unserer Tasche war fast nichts, das wäre bei den Grenzkontrollen sonst aufgefallen. Wir wurden nach einigen Tellern Suppe in einen anderen Zug Richtung Giessen gesetzt und hier waren sogar die Sitze gepolstert - hatte ich bis dahin noch nie gesehen. In Giessen angekommen, wurden wir per Bus in ein Notaufnahmelager gebracht. Hier wurde uns ein Zimmer zugewiesen, wo wir erstmal ausgiebig ruhten. Es gab später eine offizielle Begrüssung durch den damaligen MP Walter Wallmann und aber das Essen nachher war aufregender. Stellen Sie sich die Situation vor, in einem Speisesaal zu sitzen, jemand hält eine haarige grüne Knolle hoch, fragt laut was das ist und niemand antwortet. Erst ein BGS-Beamter konnte aufklären - es war eine Kiwi. Niemand dieser DDR-Bürger hatte zuvor diese Frucht gesehen. Unglaublich aber wahr. Die Reise ging weiter in ein Aufnahmelager nach Alsfeld und nach wenigen Tagen nach Eiterfeld-Buchenau, wo man die Herrmann-Lietz-Schule für Flüchtlinge eingerichtet hatte. Nach knapp 4 Monaten dort zogen wir in unsere erste Wohnung." (David Altheid / Hans-Hubertus Braune) +++