Gastkommentar von Dr. med. Thomas Menzel

Intensivbetten allein retten keinen Patienten: Entscheidend sind die Menschen!

Die reine Zahl der Intensivplätze ist trügerisch. Betten und Beatmungsgeräte allein retten keinen Patienten. Entscheidend sind die Menschen, die die Behandlung der Kranken übernehmen.
Foto: picture alliance/Fabian Strauch

02.11.2020 / REGION - Das wichtigste vorab: Die Einschränkungen im öffentlichen und gesellschaftlichen Leben, die vom Montag an gelten, sind "geeignet, erforderlich, verhältnismäßig", wie es die Bundeskanzlerin in ihrer Regierungserklärung gesagt hat. Natürlich kann man darüber streiten, ob Opernhäuser tatsächlich mit Spaßbädern gleichzusetzen sind. Oder warum Gaststätten schließen müssen, obwohl sie viel in ein ausgefeiltes Hygienekonzept investiert haben, Schulen aber nicht. Warum Tattoo-Studios schließen, Friseure und Physiotherapeuten aber weiter arbeiten dürfen.



Die Antwort auf all diese Fragen ist ganz einfach. Die Pandemie hat Fahrt aufgenommen und wenn wir jetzt nichts tun, dann wird es eng – in den Krankenhäusern.

Deshalb müssen wir jetzt die Zahl der Kontakte unter Menschen rasch reduzieren. Denn das Virus marschiert nicht allein durch die Straßen, sondern lebt nur von und in einem Wirt, und das ist der Mensch. Wir sind der essentielle Teil der Pandemie.

Je mehr potentielle Wirte einander begegnen, desto leichter kann das Virus einen neuen Wirt finden. Über die Reduktion der Kontakte und der Kontakthäufigkeit können wir die Vermehrung des Virus eindämmen, wie wir es schon im Frühjahr getan haben. Wir müssen also die Frage beantworten: Welche Kontakte sind notwendig und welche nicht?

Denn neben der Eindämmung der Pandemie verfolgen wir zwei weitere Ziele. Wir wollen möglichst viel der öffentlicher Infrastruktur aufrechterhalten – wie den Unterricht in Schulen, den Nah- und Fernverkehr von Menschen und Lebensmitteln, die Versorgung mit Wasser, Strom und Gas sowie die Gesundheitsversorgung. Und schließlich wollen wir die Wirtschaft nicht wieder zum Erliegen bringen. Nicht zuletzt um die Mittel erarbeiten zu können, mit denen wir das alles finanzieren: Auch die Krankenhäuser, die Renten und die Coronahilfen für jene, denen nun die Arbeit entzogen wird.

Im Abwägen dieser drei Ziele gegeneinander haben die Verantwortlichen am letzten Mittwoch einen Kompromiss gefunden, der erfolgreich sein kann.

Die Pandemie entwickelt auch in Deutschland eine exponentielle Dynamik. Im Frühjahr sind unsere Infektionszahlen geringer gewesen als in anderen Ländern, aber auch nur weil wir uns einen frühen Lockdown verordnet hatten. Diese Chance haben jetzt wieder, wir sollten sie nutzen.

Denn das Infektionsgeschehen ist jetzt auch bei uns auf dem Niveau, wie es in unseren Nachbarländern Frankreich und Belgien vor drei Wochen war. Wenn wir dort nicht hinkommen wollen, wo diese Länder heute sind, müssen wir die Dynamik jetzt brechen. Und anders als Im März stehen nicht Frühling und Sommer vor der Tür, sondern Herbst und Winter, die klassische Erkältungszeit also, die es auch dem neuen Coronavirus leichter macht, sich zu vermehren.

Dagegen stellen wir das Konzept des "Wellenbrecher" oder "Circuit-Breaker" Lockdowns: Zeitlich begrenzte Restriktionen, wie bereits in Teilen Großbritanniens und aktuell auch in Österreich und Portugal. Bei uns wird nun der November zum Mini-Lockdown-Monat. Die Idee dahinter ist einfach: Wir entziehen dem Virus für einige Zeit möglichst viele Menschen, bringen damit die Infektionszahlen herunter und schützen unsere Krankenhäuser vor dem Kollaps.

Der Erfolg der Maßnahmen hängt – so wie ich es an dieser Stelle schon wiederholt gesagt habe – von jedem Einzelnen ab. Eigenverantwortung ist die beste Option! Gelingt uns das nicht, wird es wohl eng werden.

Ob wir also im Dezember zu einem unbeschränkteren Leben zurückkehren werden, ob es im neuen Jahr neue Einschränkungen geben wird, oder ob wir bis dahin eine bessere Strategie zur Eindämmung des Virus entwickelt haben werden, bleibt abzuwarten. Aber jeder einzelne von uns entscheidet mit seinem Verhalten mit über die Zukunft. Wir werden lernen, mit der neuen Normalität umzugehen. Selbst wenn es in der ersten Hälfte des kommenden Jahres einen Impfstoff geben sollte.

Vieles machen wir schon besser als im Frühjahr. Wir haben die Grenzen nicht geschlossen. Mal abgesehen davon, dass eine solche Schließung ohnehin keine nachgewiesene Wirkung hat, sollte der europäische Gedanke nicht die erste Errungenschaft sein, die wir COVID-19 opfern. Stattdessen wurde vereinbart, als Gemeinschaft europäischer Staaten gemeinsam Impfstoffe zu kaufen und bereitzustellen. Das ist gut, denn mit 400 Millionen Einwohnern haben wir eine Nachfragemacht, die größer ist als die der USA. Wir müssen diese nur besser organisieren.

Gereift ist auch die Erkenntnis, dass es besser ist, schwer kranke Patienten innerhalb Deutschlands, aber auch innerhalb Europas zu verteilen, um lokale und regionale Überlastungen des Gesundheitssystems zu verhindern.

Denn was würde diese Überlastung bedeuten: Wenn die Virus-Welle so weiter läuft wie bisher, würden auch in Deutschland die Intensivbetten nicht mehr ausreichen, obwohl wir der Zahl nach je Einwohner mehr davon haben als irgendein anderes Land. Und auf der Seite des DIVI, der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, die das

DIVI-Intensivregister betreibt, sieht es eigentlich noch recht entspannt aus: Der Anteil der freien Betten an Gesamtzahl der Intensivbetten leuchtet grün.

Allerdings ist die reine Zahl der Intensivplätze trügerisch. Betten und Beatmungsgeräte allein retten keinen Patienten. Entscheidend sind die Menschen, die die Behandlung der Kranken übernehmen. Davon haben wir in Deutschland derzeit weniger als wir bräuchten.

Heute schon ist das Personal stark belastet, und wir haben in bestimmten Berufen – trotz hohen gesellschaftlichen Ansehens und einer vergleichsweise guten Bezahlung unserer hoch qualifizierten Pflegenden – Personalmangel. Corona belastet das Personal zusätzlich, physisch und psychisch. Und noch eine Belastung kommt hinzu: Selbst wenn sich bisher - auch dank der sehr guten Hygienekonzepte - nur sehr wenige Mitarbeiter im Krankenhaus angesteckt haben: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich Pflegende und Ärzte im privaten Umfeld anstecken, steigt proportional mit den Inzidenzzahlen. Das bedeutet: Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden krank und müssen in Quarantäne. Woanders ist man schon einen Schritt weiter: In Belgien arbeitet Klinikpersonal weiter, selbst wenn es infiziert ist, aber noch nicht an schweren Symptomen leidet. Das sind keine guten Perspektiven.

Dort, wo die anderen schon sind, wollen wir nicht hin. Auch in Fulda und in Osthessen nicht.

Derzeit ist die Lage in Krankenhäusern der Region angespannt aber kontrolliert. 42 Patientinnen und Patienten mit gesicherter COVID-19-Erkankung werden derzeit in den osthessischen Krankenhäusern behandelt, davon 10 auf den Intensivstationen. Fünf davon werden beatmet.

Diese Patienten sind zusätzlich zu denen da, die wir ohnehin täglich behandeln. Auf unseren Intensivstationen herrscht immer Hochbetrieb. Dort sind leere Betten - auch ohne Corona - die Ausnahme. Ja, die zusätzlichen Kapazitäten, die wir im Sommer geschaffen haben, sind da. Nur die Pflegenden nicht, die die Patientinnen und Patienten dort betreuen könnten.

In Hessen werden derzeit 1.171 Patientinnen und Patienten mit COVID im Krankenhaus behandelt, davon werden 102 beatmet. Vor nur einer Woche waren es 757 Patientinnen und Patienten, von denen 52 beatmet wurden.

Wenn sich die Entwicklung so fortsetzt, dann haben wir auch in Osthessen die Probleme, die wir im Rhein-Main-Gebiet schon heute sehen. Die Krankenhäuser sind überlastet, Patienten müssen verlegt werden. In unsere Region sind bisher schon vier Patienten aus den Nachbargebieten aufgenommen worden.

Lassen wir uns deshalb gemeinsam auf die geeigneten, erforderlichen und verhältnismäßigen Maßnahmen ein. Nehmen wir unsere eigene Verantwortung wahr. (Thomas P. Menzel) +++

Unser Gastkommentator Priv.-Doz. Dr. med. Thomas Menzel.

Die Pandemie hat Fahrt aufgenommen und wenn wir jetzt nichts tun, dann wird es eng – in den Krankenhäusern.
Foto: Adobe Stock / Nuthawut

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