Was wir lesen, was wir schauen (39)
Amor Towles "Ein Gentleman in Moskau" - Was ist schon wirklich bedeutsam?
Foto: © wikipedia
23.01.2022 / REGION -
Wie steht es um Ihre Sympathien zu den Protagonisten der Finanzwelt? Top of the list? Eher nicht? Dachte ich mir. Jetzt müssen Sie ganz stark sein, es gibt nämlich auch nette Finanzhaie. Zum Beispiel den Amerikaner Amor Towles, der nach 20 Jahren in der Investmentbranche beschloss, auszusteigen und Bücher zu schreiben.
Verbannt ins Hotel
Dass man sich nicht so bewegen kann, wie man will, kennen wir seit Corona nur zu gut. Und dass man aktuell besser Zeitreisen macht, als sich in einen Flieger zu setzen, dürfte sich auch herumgesprochen haben. Deswegen passt dieser wunderbare Roman auch hervorragend zum Omikron-Jahresauftakt. Der Held dieser Zeitreise ins Moskau der 1920er Jahre ist ein russischer Adliger, der von den Revolutionären im Hotel Metropol festgesetzt wird. Verlassen darf er das Hotel nicht. Anders als wir, denen bei Zuwiderhandlung gegen Corona-Maßnahmen höchstens ein Bußgeld droht, würde Graf Alexander Rostov dann kurzerhand erschossen.
Draußen das Leben, drinnen die Abenteuer
Beim Lesen fühlte ich mich leise an "Menschen im Hotel" erinnert. In Vicki Baums Roman und auch in der Verfilmung kreuzen sich die Schicksale und Lebenslinien verschiedener Menschen in 24 Stunden. Towles‘ Roman überspannt mehrere Jahrzehnte. Ob Haupt- oder Nebenfigur, sie alle zeichnet der Autor mit liebevoll-genauem Blick. Sie alle formen, egal ob Gäste oder Bedienstete, so etwas wie die Metropol-Familie, die füreinander da ist und einsteht. Das ist mal komisch, mal zärtlich, mal rührend, mal aufregend.
Zwei Frauen geben Rostovs Leben entscheidende Wendungen, beide lernt er als kleine Mädchen kennen. Mit Nina Kulakova durchstreift er das Hotel und erkundet jeden noch so geheimen Raum. Auf rätselhafte Weise ist Nina an einen Generalschlüssel gekommen, der jede, wirklich jede Tür im Metropol öffnet – und Jahrzehnte später noch sehr wichtig wird. Wir sind angerührt, wenn Rostov immer wieder versucht, Nina zu erziehen oder ihr etwas beizubringen – und feststellen muss, dass in Wirklichkeit das Kind ihm die Augen öffnet. Als sie als junge Frau weggeht, weil die glühende Kommunistin die Kollektivierung der Bauern mit vorantreiben will, ist Rostov traurig, die neue Beschäftigung als Oberkellner im Boyarsky lenkt ein wenig ab. Anfang der 1930er Jahre kommt Nina für einen kurze Moment zurück ins Metropol und vertraut Rostov ihre Tochter Sofia an, während sie sich auf die Suche nach ihrem Mann macht, der als Opfer der stalinistischen Säuberungen deportiert wurde.
Was als Arrangement für einige Wochen gedacht war, entpuppt sich als Lebensaufgabe, denn Nina kehrt nie zurück, und aus dem ‚Onkel‘ wird der ‚Papa‘ für Sofia. Später wird Rostov ihr sagen, es gäbe keine Zufälle im Leben, es sei ihm vorbestimmt gewesen, dass er im Metropol festgesetzt war und in jener Nacht da war, als Nina ihm ihre Tochter anvertraute. Die wächst heran zu einer schönen, stillen Frau mit großem musikalischen Talent. Wie weitgehend Rostovs Pläne für sie sind, enthüllt sich uns erst auf den letzten Seiten des Romans, auf denen ein internationaler Klavierwettbewerb in Paris, der Film ‚Casablanca‘, Humphrey Bogart sowie diverse finnische und amerikanische Hotelgäste eine wichtige Rolle spielen… und dann kann ein neuer Lebensabschnitt beginnen.
Was ist wirklich wichtig im Leben?
Besonders süffig lesen sich die Szenen, in denen Ideologie und Leben aufeinanderprallen, manchmal entwickelt sich aus diesen Situationen aber auch große Tragik. So etwa bei Mishka, Rostovs altem Studienfreund, der eine Sammlung russischer Kurzgeschichten zusammenstellen soll – selbstverständlich revolutionsgefällig. Mit der Sowjet-Zensur der Weltliteratur ist Mishka zunehmend nicht einverstanden und wird folglich bald nach Sibirien verbannt. Sein letztes Statement zur Revolution ist sein ‚Projekt‘, das er Rostov posthum zukommen lässt – ein Buch, in dem er von der Bibel bis zur Neuzeit Zitate über Brot versammelt – weil er einst gezwungen wurde, eine solche Bemerkung aus einem Tchechov-Reisebericht zu streichen.
Genosse Leplevsky, von allen nur ‚Bischof‘ genannt und proletarisch geboren, managt das Hotel. Später stellt sich heraus, dass er von fast jedem im Hotel Spitzeldossiers angefertigt hat. Er sorgt für Gleichheit auf ganz eigene Art, indem er konstatiert, die Weinliste des Metropol sei konterrevolutionär. Deswegen kann man keinen bestimmten Wein mehr wählen, sondern nur noch zwischen rot und weiß, und alle Weine kosten dasselbe. Der Graf kann es nicht fassen, aber Andrej zeigt ihm im Weinkeller die abgerissenen Etiketten – zehn Leute hätten für diese Aktion zehn Tage gebraucht.
Wir grinsen über sein neue Bestellsystem im Restaurant – Kellner schreibt Bestellung auf, gibt diese dem Aufsichtshabenden im Restaurant, der einen Zettel an die Küche schreibt, die wiederum einen Zettel zurückschreibt, wenn das Gericht fertig ist, worauf der Aufsichtshabende den Kellner verständigt – und der Gast sein Essen erhält. Leider kalt wie Spargel in Aspik. Aber mit wunderbar durchorchestriertem Ablauf.
Das Metropol – ein geschichtsträchtiges Grand Hotel
Das Metropol gibt es wirklich, eröffnet wurde es 1905. Es liegt am Moskauer Theaterplatz mitten im historischen Zentrum der Stadt. Von hier aus ist man schnell am Bolschoi, am Maly Theater oder am Kreml. Das Metropol setzte, wie das Claridges’s, das Ritz oder das Waldorf Astoria, Standards in Sachen Luxus und Service. In Moskau war es das erste Hotel, in dem jedes Zimmer mit heißem Wasser, einem Kühlschrank und einem Telefon ausgestattet war. Das Hotel bot internationale Küche und sogar eine amerikanische Bar. Von Tag eins seiner Existenz an war das Metropol der Ort, an dem sich die Reichen und Schönen und die Kosmopoliten trafen. Diese Herrlichkeit dauerte gerade einmal zwölf Jahre.
"Ein Gentleman in Moskau" ist einer dieser seltenen Romane, die gleichzeitig klug, elegant, humorvoll und unterhaltsam sind, dazu blendend erzählt. Ganz nebenbei erfährt man viel über die russische Geschichte und Literatur. Und am Ende spüren wir: es ist die innere Haltung, die darüber entscheidet, was für ein Mensch man ist oder wird, nicht die politische Indoktrination.
Weiterführende Links
https://www.amortowles.com/moscow-metropol-references/
https://metropol-moscow.moscow-hotels.org/de/#main
(Jutta Hamberger)+++
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