Echt jetzt! (6)

Bella Germania - Bemerkungen von Rainer M. Gefeller

Rainer M. Gefeller über Bella Germania
Grafik: O|N

02.05.2024 / REGION - Ach, wie schön ist kulturelle Aneignung. Pizza statt Schweinsbraten, Prosecco statt Sekt, Lässigkeit statt Krampf – so wollen wir leben, oder etwa nicht? Und wer hat’s erfunden? Natürlich dieses Sehnsuchts-Volk südlich der Alpen. Holen wir uns noch eine Prise französischer Eleganz und Finesse dazu, eine Ladung holländischer Unbeschwertheit, einen Schluck spanische Grandezza, den Duft von griechischem Tsatsiki – schon fühlen wir uns daheim. Daheim in Fulda, daheim in Europa. 



Was zu unserem täglichen Leben gehört, wird gern als selbstverständlich betrachtet. Die Älteren wissen noch, wie das war, als in ganz Europa die Grenzen dicht waren. Ermüdendes Warten vor den Kontrollstellen, schikanöse Grenzwächter, die bei der Suche nach Schmuggelware schon mal in den Motorraum krochen. Jeder kleine Wurst-Staat hatte seine eigene Währung (die D-Mark wurde natürlich überall gern genommen). Keiner sprach deutsch. Keiner hatte die deutschen Weltkriegs-Anzettler lieb. 

"Sonne statt Regen"

Aber dann, in den 50er Jahren, starteten die Deutschen ihre Charme-Offensive, erstmal in Italien. Der Stern gab die Richtung vor: "Sonne statt Regen, Rimini statt Bottrop!" So ratterten die Urlauber in ihren VW-Käfern und Opel-Rekords über die Alpen, nicht ohne strenge Ermahnungen der Autofahrer-Erziehungs-Sendung "Der 7. Sinn": "Lassen sie ihre Kinder nicht an der Tankstelle stehen." 

Wie Aliens stapften die ersten deutschen Massen-Touristen durch das Land ihrer Träume, weiße Socken in Sandalen, kurze Hosen, grelle Hemden. Aber sie lernten schnell. Man mühte sich um die Landessprache, sagte artig Per Favore und Grazie, und später auch Bonjour und Buenas Tardes (weil wir inzwischen so weit gereist sind, kann man das natürlich schon mal durcheinanderwerfen). Mancher begriff, dass Ess-Kultur wichtiger war als der mit Nivea-Creme, Seife und Haarwaschmittel gefüllte Kultur-Beutel. Von der wahren, guten, großen Kultur, an der Italien so reich ist, ganz zu schweigen. Wenn’s ans Bezahlen ging, blätterte man für den eine Mark teuren Cappucino lässig eintausend Lire hin; mit den dicken Geldbündeln in der Tasche fühlte man sich doch gleich wie einer vom Jet-Set. Damals wurde der Dolce-Vita-Germane geboren. 

Europäische Werte wurden mit Wein, Bier und Ouzo serviert; die Deutschen haben sich alles angeeignet, was ihnen an Europa schmeckte – und die übrigen Europäer taten es genauso. Respekt vor der jeweiligen Andersartigkeit und gegenseitige kulturelle Aneignung ist der Kitt, der die Völker Europas zusammenhält. Alle haben gelernt: Vielfalt ist besser als Einfalt. 

Die ersten Italiener brachen bereits in den 1920er Jahren auf in den kalten deutschen Norden; in den Tälern der Dolomiten herrschte blanke Not. Als erstes kamen die Eismacher. Sie nannten ihre Eisdielen vorzugsweise "Dolomiti", "Venezia" oder "Cortina", so war die Heimat immer bei ihnen. Die erste Pizzeria öffnete 1952 in der Würzburger Elefantengasse: ein gewisser Signore Nicolina di Camillo servierte im "Sabbie di Capri" seine "Mafia-Fladen". Die ersten Italiener in Deutschland hatten es nicht wirklich leicht. 

Aber sie waren die frühen Sendboten des neuen Europas, auch in Fulda. Manche sind schon so lange hier, dass sie längst als Ur-Fuldaer durchgehen. Zum Beispiel Maria Arresta, die zusammen mit ihrem spanischen Ehemann José das Casa Espana betreibt. Oder Crescenzo Mattera, der Chef des Romantica. Oder Nico, der auch noch Tedesco heißt ("Tomate"). Nur wenn sie reden, schwebt gleich ein Hauch Fernweh durch die Gaststuben: Ihre deutsche Sprache ist und bleibt italienisch gewürzt. Das klingt doch gleich viel freundlicher!

Europa: Danke, dass wir dabei sein dürfen. Jetzt hängen wieder überall Plakate; unser Kontinent ruft an die Wahlurnen. Ein guter Grund, dass die Region ihr europäisches Gesicht zeigt. Schon seit Wochen gibt es Workshops, Diskussionen, Versammlungen und Kundgebungen. Außerdem die berührende Ausstellung "Europa, Fulda und Ich", 26 herrliche Porträts von fuldischen Europäern, fotografiert von Walter Rammler (Vonderau-Museum, noch bis 30. Juni). 

Europawahl am 9. Juni

Gewählt wird am 9. Juni; das haben Sie sich ja sicher notiert. Geben Sie Acht, dass der Bleistift fürs Ankreuzen angesichts der 34 zugelassenen Listen nicht ins falsche Kästchen rutscht. Wer Europa-Feinde wählt, entscheidet sich gegen unsere Art zu leben. Um es mit der Kulinarik auszudrücken: Wollen Sie ernsthaft eine engstirnige Schweinsbraten-Republik zurückhaben? (Rainer M. Gefeller) +++

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