"Außenstehende sensibilisieren"

Sich blind verstehen: O|N auf Entdeckungstour mit Werner Auth

Die Barockstadt auf eine ganz andere Art und Weise erleben. V.l.n.r.: O|N-Redakteurin Michelle Kedmenec, O|N-Volontärin Maria Franco und Blindenführer Werner Auth.
Fotos: Carina Jirsch

26.10.2020 / FULDA - Unsere Wahrnehmung hilft uns dabei, die unzähligen Reize aus der Umwelt zu verarbeiten - jeder auf seine eigene Art und Weise. Der Verlust der Sehfähigkeit trägt dazu bei, dass sich die anderen Sinne schärfen. Wie fühlt sich das im Alltag eines Betroffenen an? O|N startet den Selbstversuch: Gemeinsam mit Blindenführer Werner Auth begeben wir uns auf eine Stadtführung, die uns im wahrsten Sinne des Wortes die Augen öffnet.



Werner Auth leidet an Retinitis pigmentosa (RP) – auf dem linken Auge ist er blind, das Sichtfeld des rechten Auges ist stark eingeschränkt. Bereits seit 15 Jahren wohnt er in der Fuldaer Innenstadt und setzt sich seit Jahren für Menschen mit Handicap ein: "Damals habe ich schon gemerkt, dass es hier viel Nachholbedarf gibt. Mein Anliegen ist es, die Stadt für uns Betroffene wie Blinde und Sehbehinderte oder auch Rollstuhlfahrer bewohnbarer zu machen."

Gefahrenstelle: Treppengeländer am Dom 

Viele Hebel wurden in Bewegung gesetzt, doch Problemstellen gibt es weiterhin. Einigen sind wir von O|N auf den Grund gegangen. Mithilfe von Simulationsbrillen und Masken sind wir in die Rolle eines Sehbehinderten geschlüpft. Eine Station führte uns zur Domtreppe - ein Areal, das zwei Gefahrstellen mit sich bringt. Nachdem der Blindenleitstreifen endet und man das Metallgeländer erreicht hat, lassen sich die Stufen Schritt für Schritt herunterlaufen. Soweit so gut. Doch mittendrin hört das Geländer auf - eine irritierende Stelle, wie auch wir feststellen müssen. Orientierungslos suchen wir den Anschluss - ohne Hilfe wären wir wohl aufgeschmissen gewesen. "Ein Sehbehinderter weiß nun leider nicht, ob er am Ziel angelangt ist. Ein durchgängiges Geländer wäre hier sinnvoll", bemängelt Auth.

Nachdem wir schließlich Teil zwei des Geländers ertastet haben und fast unten angelangt sind, lauert bereits eine weitere schwierige Etappe. "Die letzten zwei Stufen sind ganz gefährlich. Man denkt, man ist unten - schließlich endet das Geländer - aber es folgen weitere Stufen zum Hinabsteigen. 30 Zentimeter vor der ersten Stufe muss das Treppengeländer beginnen, das ist hier nicht der Fall", so der 52-Jährige. Ein berechtigter Kritikpunkt: Sollte eine Person mit Behinderung hier stürzen, wären sicher Verletzungen die Folge. 

Selbstverständlichkeiten ausblenden

Neben einer Busfahrt, führten uns weitere Stationen unter anderem über eine Kreuzung, zur Florengasse und zum neuen Dalbergpark. Das Fazit am Ende der exklusiven Blinden-Tour: Nur ein Bruchteil oder überhaupt nichts sehen zu können, stellt einen vor viele Hürden im alltäglichen Leben. Als Anfänger die Orientierung zu bewahren, fällt ziemlich schwer, Geräuschkulissen wirken plötzlich ganz anders. Die temporär veränderte Wahrnehmung an diesem Tag hat uns gezeigt, dass uns doch vieles selbstverständlich erscheint, was für andere jedoch erhebliche Schwierigkeiten darstellt. 

Erfahren Sie mehr über die etwas andere Führung in unserem O|N-Video. (Maria Franco) +++

X